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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Gruppe von Menschen, die zu einer Einheit verbunden sind, weil es eben so ist, und die von einem Tag zum anderen, von einem Jahr zum anderen voranschreiten – wer würde das in Frage stellen? Die einzelnen Komponenten dieses Gebildes mögen ihre individuellen Ausflüge in die Außenwelt machen – zur Schule, zur Arbeit, zum Einkaufen –, aber sie kullern immer wieder in diese geschlossene Einheit zurück. Bis es naturbedingt zu Abspaltungen kommt – aber das war in Allersmead noch weit weg, undenkbar sogar, eine ewig fortdauernde Gegenwart lang, wie es Gina heute scheint. An Allersmead und seinen Bewohnern war nicht zu rütteln; hin und wieder aber gab es auch einen Moment der Beobachtung, der Neubewertung.
    *
    Eines Tages betrachtet sie Clare und sieht, dass Clare Ingrid ähnlich sieht, sehr ähnlich sogar. Hat sie das noch nie bemerkt? Doch – aber sie hat nie darüber nachgedacht.
    Nun denkt sie nach.
    Roger und Katie sehen aus wie Mum. Paul sieht aus wie Dad. Sandra und ich haben ein bisschen von beiden. Aber Clare …
    Leute sehen einander nicht ähnlich, weil sie im selben Haus wohnen. Sondern es liegt an den Genen.
    Sie brütet eine Weile über diesen Gedanken. Schließlich teilt sie sie Paul mit, der Gina nur verwirrt ansieht. Als sie in einem seltenen vertraulichen Moment mit Sandra darüber spricht, reagiert Sandra keineswegs verwirrt, sondern mit lebhafter Zustimmung. »Ja«, sagt sie, »ich weiß. Das ist mir auch schon aufgefallen.«
    Aber Ingrid hat keinen Freund. Ingrid hat kein Leben außerhalb von Allersmead, soweit man weiß. Dieser Jan, der sie in Crackington Haven besuchte, gehört noch der Zukunft an. Ich war fünf, als Clare kam, denkt Gina. Sandra war vier. Und Clare kam, lange bevor Ingrid eine Weile wegging. Ingrid war von Anfang an da gewesen, nie woanders. Und ist immer da geblieben. Beide Schwestern verfolgen dieselben Gedanken, ohne sie den anderen mitzuteilen. Nur Sandras Augenbrauen wandern in die Höhe.
    *
    »Warum ist sie geblieben?«, fragt Philip. »Warum hat sie Clare nicht einfach genommen und ist gegangen? Es sieht nicht so aus, als gäbe es zwischen ihr und deinem Vater …«
    »Einen Herzensbund?«, sagt Gina kühl. »Hilfe, nein. Wenn es denn je einen gegeben hat.«
    »Woran liegt es dann?«
    »Wir waren eine Familie, stimmt’s? Und Familien sind unauflösbar.«
    *
    Philip hat angebissen. Allersmead interessiert ihn. Gina ist eher amüsiert als verärgert; sie kennt ihn ja. Er stellt gern Nachforschungen an, ist von Natur aus hartnäckig. Gina mag diese Eigenschaft. Außerdem kann sie so mit seinen Augen sehen, kann Allersmead so sehen, wie er es sieht, als ein rätselhaftes, faszinierendes Phänomen. Für sie dagegen ist es nur die unabänderliche Realität, aus der sie hervorgegangen ist.
    Tatsächlich denkt sie nicht viel an ihre Familie, an Allersmead. Von Zeit zu Zeit tauscht sie sich mit Paul aus. Gelegentlich ruft ihre Mutter an. Und natürlich meldet sich immer wieder jene ewig fortdauernde Gegenwart und erinnert sie daran, dass ein Mensch stets an ein Anderswo gefesselt ist, an die andere Zeit, den anderen Ort.
    Heute ist sie überall – in der Wohnung, im Studio, unterwegs in London, im Flugzeug, und nach dem Landen in einer jener Alternativwelten, aus denen sich der Globus zusammensetzt. So geht das schon seit Jahren. Allersmead liegt für sie in weiter Ferne, begraben unter vielen Schichten späterer Erfahrungen, und manche dieser Erfahrungsschichten haben ihr etwas über Allersmead enthüllt.
    Gina hält die Ehe für eine merkwürdige Einrichtung. Heutzutage geben sich die Leute nicht mehr so viel damit ab. Vielleicht wird die Ehe irgendwann ganz aussterben. Sie überlebt anscheinend nur, weil sie eine juristische Bedeutung hat, für manche auch eine religiöse, und ziemlich viele junge Frauen möchten immer noch in ein Hochzeitskleid schlüpfen und einen ekstatischen Tag lang im Mittelpunkt stehen. Natürlich ist die Ehe durch etwas sehr Ähnliches ersetzt worden, das juristisch weniger riskant erscheint. Mit jemandem zusammenzuleben ist eine Ehe ohne Brief und Siegel. Die Freuden und Gefahren sind dieselben.
    Während Gina die ganze Welt bereiste, wurde ihr bewusst, welche untergeordnete Rolle verheiratete Frauen in vielen Gesellschaften spielen. Frauen kochen und passen auf die Kinder auf. Kam ihr das nicht bekannt vor? Sie sieht Alison in der Küche von Allersmead, sieht sie eine Mahlzeit nach der anderen servieren. Sie braucht kein Wasser vom Brunnen

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