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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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zu holen, kein Getreide zu mahlen, keine Ziege zu melken, aber ihre Lebensarbeit besteht im Bereitstellen von Nahrung. Was für ein Glück, dass sie so gern kocht, denkt Gina.
    Untergeordnet. Unterordnung impliziert einen unterlegenen Status, das Ausführen von Anweisungen, das Erfüllen von Erwartungen. Aber Mum hat alles immer deshalb getan, weil es genau die Arbeit war, die sie sich wünschte. Dad wurde mit Essen und Getränken versorgt wie wir alle und hätte zweifelsohne protestiert, wäre der Service ausgeblieben; Anweisungen hat er allerdings keine gegeben.
    Was hat er überhaupt zu ihr gesagt? Gina lauscht und hört vor allem Funkstille. Miteinander haben sie nicht viel gesprochen, stellt sie fest. Mum wandte sich meist an alle oder sprach mit einem bestimmten Kind. Dad gab einen Kommentar ab, höchstwahrscheinlich einen sarkastischen, oder schwieg, oder war einfach nicht da, hatte sich in sein Arbeitszimmer abgesetzt. Gina hört ihre Eltern nicht über den Zustand der Nation diskutieren, nicht einmal darüber, was sie am Wochenende unternehmen könnten.
    Sie denkt an den Dialog zwischen Philip und ihr selbst, an das tägliche, fortlaufende Gespräch. Sie sieht ihre Eltern mit neuen Augen. Sie wundert sich über diese merkwürdige, unverzichtbare Lebensform, die zwei Menschen im Bett und außerhalb zu einem prekären Gespann zusammenschirrt.
    *
    Sie ist jung, sieben vielleicht oder acht. Es sind Sommerferien; sie sind am Strand, und Gina planscht in der Brandung herum. Sie dreht sich um und blickt zurück, sieht ihre Eltern ganz klein in der Ferne nebeneinander auf einer Decke sitzen. Dad liest. Mum schmiert Katie und Roger mit Sonnenmilch ein. Ringsherum sind andere Gruppen, andere Familien. Sie sieht, dass die Welt aus Familien besteht, jeder ist einer zugeordnet und damit gekennzeichnet. Der Strand setzt sich aus diesen Einheiten zusammen, selbstgenügsamen, abgeschlossenen, einander fremden Einheiten. Die einzigen bekannten Gesichter sind die ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geschwister.
    *
    David hat einmal zu ihr gesagt: »Du brauchst mich nicht. Du magst mich – vielleicht liebst du mich –, aber von Brauchen kann keine Rede sein.« Sie hörte einen Vorwurf, eine Kritik heraus, wusste aber, dass er recht hatte, und sah das Ende ihrer gemeinsamen Zeit schon heraufziehen wie eine Wolkenbank am Horizont.
    David ist heute mit einer anderen Frau zusammen. Sie haben ein Kind. Gina sieht jetzt, dass er sie gebraucht hatte, und dieses Ungleichgewicht bildete den Kern aller Schwierigkeiten, in die sie geraten waren. Bedürfnisse sind vielleicht das entscheidende Element in jeder Beziehung, der notwendige Leim. Sexuelle Bedürfnisse, emotionale Bedürfnisse, materielle Bedürfnisse. Aber beide müssen auf die eine oder andere Art bedürftig sein, sonst gerät alles aus den Fugen.
    In ihrer Beziehung mit Philip wägt sie lieber nicht ab, wer der Bedürftigere ist. Gelegentlich schielt sie vorsichtig auf ihre eigene Bedürftigkeit und erkennt sie sehr deutlich, was vielleicht auch gesund ist. Ist das bei ihm auch so? Nein, das lassen wir lieber. Und hoffen das Beste.
    »Der Bauer braucht ’ne Frau, der Bauer braucht ’ne Frau.« Sie hört das Kinderlied, das an Geburtstagen im Kreis gespielt wurde, einer steht in der Mitte. Mum sorgt für die richtige Aufstellung, das Kurbelgrammofon kräht leicht schräg (sie waren die einzige Familie, die noch ein Kurbelgrammofon hatte; Besuchskindern stand der Mund offen). »Und jetzt singen alle mit«, ruft Mum. »Der Bauer braucht ’ne Frau, der Bauer braucht ’ne Frau …«
    Der Bauer braucht eine Frau zum Kochen und Wäschewaschen und Kühemelken und Gebären von starken Bauernsöhnen. Aber die Frau will ihn nicht, so erinnert sich Gina zumindest, sie will ein Kind – der Urtrieb. Gebraucht hätte sie ihn allerdings schon, auch wenn sie ihn nicht haben wollte, weil die Frau in den Anfängen der Neuzeit und auch noch später (hier souffliert Ginas Geschichtsstudium) einen prekären Stand hatte – sie benötigte einen Mann als Ernährer und Beschützer; er gab ihr sozialen Status. Man kennt das ja aus den Romanen von Jane Austen und erinnert sich an die Misere der jungen Frauen in den männerlosen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.
    Solche Notwendigkeiten bestehen in Ginas Kreisen kaum mehr, anderswo beherrschten sie noch den Alltag. Gina hat die fatalen Lebensumstände von Frauen dokumentiert, deren Männer in Ruanda, im Sudan niedergemetzelt wurden und die nun

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