Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
Vom Netzwerk:
mit einem Haufen Kinder und ohne Versorger dastehen. Auch in Glasgow und Brixton findet man genügend Beispiele. Da geht es nicht um sozialen Status, sondern die Frau braucht den Mann aus sehr handfesten, praktischen Gründen. Nur in der himmelblauen Welt gut bezahlter Jobs für Frauen hat sich diese Art von Bedürftigkeit erledigt.
    Gina braucht Philip, stellt sie fest, aber ein Kind braucht sie nicht und wünscht sich auch keines. Nicht dringend. Käme eins, würde man sicher das Beste daraus machen, am Ende wäre man vielleicht sogar glücklich darüber. Aber wie die Dinge liegen, kann sie genau wie Philip gern darauf verzichten. Der nicht zu bändigende Kinderwunsch ihrer eigenen Mutter bleibt ihr daher ein Rätsel; sie kann sich solche Gefühle schlichtweg nicht vorstellen. Sie erinnert sich an Corinnas – Tante Corinnas – unübersehbaren Widerwillen bei jedem Besuch in Allersmead, wenn sie das Gewühl der Neffen und Nichten durchwaten musste. Sie interessierte sich nicht für Kinder und hielt damit auch nicht hinter dem Berg, denkt Gina. Heißt das, ich bin wie Corinna? Gott bewahre! Corinna, die vertrocknete Akademikerin – da bin ich doch sicher menschlicher. Corinna war meine Patin – nicht Tauf patin, wohlgemerkt –, doch ihre Unterstützung beschränkte sich auf Büchergutscheine zum Geburtstag und zu Weihnachten und später auf ein gelegentliches Zeichen wohlwollenden Interesses. Der Journalismus existiert auf Corinnas Radarschirm nur am Rande; ihr imponieren ausschließlich Leistungen, die im Bereich ihrer eigenen dünnen Höhenluft vollbracht werden. Ich verfasse keine Studien über Lyriker des neunzehnten Jahrhunderts, also falle ich durch ihr Raster. Als ich sechzehn war, hat sie mir ihr eigenes Buch über Christina Rossetti zum Geburtstag geschenkt: »Ich denke, du könntest jetzt alt genug dafür sein, Gina.«
    Gina erinnert sich an Corinnas kaum verhohlene Verachtung für Alison. Frauen wie Alison sind nach Corinnas Ansicht ein Anachronismus, zurückgeblieben und einer vergangenen Denkweise verhaftet; sie bleiben im Sumpf von Kindern und Küche stecken und haben keine Ahnung von der frischen Luft, die jenseits davon weht. Corinna hat Mum ignoriert, denkt Gina. Sie ließ Mum über sich hinwegschwappen, ohne ihr zuzuhören. Und während Gina das denkt, kann sie beide Frauen heraufbeschwören; sie hat sie glasklar im Kopf, kann sie sehen und hören. Sonderbar, denkt sie, wir sind zum Bersten voll mit anderen Menschen, eine wogende Menge Gesichter und Stimmen, die uns im Kopf herumgehen wie Gespenster, körperlos und unauslöschlich.
    *
    Alison schenkt am Kopfende des Tischs Tee aus der großen blauen Kanne aus. Sie trägt ein Kleid aus braunem Feincord, eines ihrer so geliebten taillenlosen Gewänder, die Ingrid ihr nach einem uralten, zerschlissenen Schnittmuster näht. Aus ihrem ungeschickt zusammengedrehten Haarknoten fliegen die Strähnen heraus. »Milch, Corinna?«, fragt sie. »Nimm dir doch von dem Walnusskuchen.«
    Corinna trägt eine gestärkte weiße Bluse und einen blauen Blazer mit Silberbrosche auf dem Revers, ein keltischer Knoten, passend zu ihren Ohrringen. Ihre kurzen, glatten Haare sind raffiniert geschnitten. Sie unterhält sich mit Charles, streckt die Hand nach der Teetasse aus, nimmt aber keinen Kuchen. Sie erzählt Charles von ihrem neuen Projekt über Swinburne: »Der wird leider stark unterschätzt, findest du nicht auch? Ich werde ihm zurück auf die Landkarte verhelfen.« Sie muss laut sprechen, um den Geräuschpegel am Tisch zu übertönen; die ganze Familie ist versammelt. Charles studiert eingehend seine Teetasse.
    Alison platzt hinter der Teekanne dazwischen: »Ist er jemand, den wir in der Schule auswendig gelernt haben? Fürchterlich, ich kann mir einfach keine Namen merken. Roger, scharr nicht mit den Füßen – man kann kaum hören, was gesprochen wird. Natürlich lernen die Kinder heute nichts mehr auswendig, aber ich glaube, es hatte doch einen gewissen Sinn, ich hab noch zig Verse im Kopf, › Es stand der Knabe auf flammendem Deck, die andern warn feig geflohn …‹, ›Lars Porsena von Clusium, er schwor’s bei der Götter neun … ‹ – von wem ist das denn gleich wieder? Das musst du doch wissen, Corinna. Clare, Sandwich und Kuchen gleichzeitig geht nicht. Ich glaube, Poesie ist sehr, sehr wichtig. Ihr wisst, dass sie jetzt in der Schule selber Gedichte schreiben, statt welche zu lernen. Gina hat letzte Woche als Hausaufgabe ein wunderschönes

Weitere Kostenlose Bücher