Familienalbum
Gina.
»Eigentlich mag ich Kinder nicht besonders gern. Ist das nicht schrecklich?«
»In Allersmead hatte ich selber ganz ähnliche Gefühle.«
Sie lachen.
»Wir sind schon ein ziemlich gemischter Haufen, was?«, sagt Clare. »Und in alle Himmelsrichtungen verstreut. Alle machen was völlig anderes.«
»Stimmt. Spricht nicht sehr für unsere Erziehung.«
Nachdenklich sehen sie einander über den Tisch hinweg an, zwei Frauen, die sich in ganz unterschiedlichen Welten bewegen, aber derselben Quelle entsprungen sind.
»Keiner von uns hat Kinder«, sagt Gina. »Außer vielleicht Roger irgendwann mal, kann ich mir vorstellen. Und die meisten von uns sind auf und davon, möglichst um den halben Globus. Außer Paul.«
»Wie geht’s ihm denn?«
Gina zieht eine Grimasse. »Geht so. Besser wird’s wohl nie werden.«
Clare seufzt. »Was ist denn da schiefgelaufen?«
Kurzes Schweigen. »Wer weiß? Liegt’s an der Erziehung, den Genen? Mum hat ihn richtig erstickt. Ihren Liebling. Und er ist – na ja, wohl ziemlich schwach. Wir anderen sind das nicht. Außerdem stand er mit Dad auf Kriegsfuß, der hat ihn seinen Sarkasmus spüren lassen. Die beste Methode, um die Selbstachtung eines Menschen zu zerstören.«
Clare nickt. »Und jetzt ist er der Einzige, der sozusagen immer noch an Allersmeads Nabelschnur hängt. Meinst du, wir sind wegen Allersmead so weit auseinandergedriftet?«
»Nein. Du bist, wo du bist, weil du eine grandiose Tänzerin geworden bist. Ich habe meinen Beruf gewählt, weil ich hartnäckig und ziemlich aufdringlich bin und Auslandseinsätze liebe, und Roger ist ein brillanter Arzt, und …« Gina breitet die Hände aus. »Wir sind einfach, was wir sind.«
»Trotzdem – wir sind lieber auf und davon. So viel zur Familie. Mums Lebensideal.«
Mum.
»Mum«, sagt Clare und zieht eine elegant geschwungene Augenbraue hoch. Sie lächelt. »Ich weiß. Aber wie soll ich denn sonst zu ihr sagen?«
Gina ist perplex. Der Punkt, über den nie gesprochen wird. Einen Moment verschlägt es ihr die Sprache. Dann sagt sie: »Hätten wir uns alle schon vor Jahren hinsetzen und darüber reden sollen? Hätten wir sie zwingen sollen, sich hinzusetzen, sich damit auseinanderzusetzen?«
Clare schüttelt den Kopf. »Nein. Für mein Gefühl war es besser, das Kuddelmuddel im Dunkeln zu lassen.«
»Wie du dich dabei gefühlt haben musst …« Gina verstummt und schweigt wieder. Sie merkt, dass sie keine Ahnung hat, wie Clare sich gefühlt haben muss.
»Ziemlich durcheinander? Das kann man sagen. Ich erinnere mich, dass ich dich mal gefragt habe, ob Vater unser – unser Vater –auch mein Vater sei. Nach einem Weihnachtsgottesdienst. Du hast mir versichert, er sei es.«
»Hab ich das? Ich erinnere mich … ich hab’s so halbwegs durchschaut … schon früh. Und dann von mir weggeschoben, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte machen sollen.«
»Genau«, sagt Clare. »Wie wir alle. Auch sie haben es von sich weggeschoben. Die drei.«
»Ach, die. Und sie sind immer noch da. Die Restfamilie. Schon grotesk, was?«
Sie starren einander an. »Mann!«, sagt Gina. »Dazu hätten wir uns schon früher aufraffen sollen. Aber … geht’s dir denn gut damit?«
Clare lächelt. »Wahrscheinlich besser, als man erwarten würde.«
»Und … Ingrid? Hast du mit ihr …?«
»Nein. Nie. Sie hat mit Gefühlen nichts am Hut. Wie du vielleicht bemerkt hast.«
Gina nickt. Und bevor sie weiterreden können, kommt der Kellner, und sie erörtern, ob sie einen Kaffee möchten und was für einen. Clare fällt ein, dass sie in einer halben Stunde mit Pierre verabredet ist; sie beginnt von der neuen Produktion ihrer Truppe zu erzählen, und schon läuft das Gespräch in eine ganz andere Richtung.
»Diese neue Choreografie klingt spannend«, sagt Gina. »Ein geometrisches Thema … Und was bist du? Ein Würfel sicher nicht.«
*
»Ich habe eins von den Büchern deines Vaters gelesen«, sagt Philip.
»Ich dachte, die seien vergriffen.«
»Wozu gibt es Internet? Drei fünfzig, leicht abgestoßen, ohne Schutzumschlag.«
»Welches denn?«
»Die Studie über den Jugendkult. Initiationsriten in Namibia und das Ganze. Ich begreife nun dein Entsetzen, als du damals einen Blick in sein Manuskript geworfen hast.«
»Ich würde gern wissen, warum dich mein Vater so interessiert.«
»Wahrscheinlich, weil er so anders ist als meiner.«
Philips Vater ist ein pensionierter Buchhalter, dessen harmlose Tage zwischen Hundespaziergängen
Weitere Kostenlose Bücher