Familienalbum
und Kreuzworträtseln verlaufen. Er und seine Frau spülen das Geschirr stets gemeinsam, in einem so geselligen Schweigen, dass jedes Wort überflüssig wäre. Gina war beeindruckt; das Schweigen besaß eine besondere Qualität.
»Hast du das Gefühl, du kennst deine Eltern?«, fragt sie.
»Natürlich nicht. Du fragst vermutlich, weil du an deine eigenen denkst.«
»Gut möglich.«
»Die kommen von einem anderen Planeten. Meine Eltern würden über die deinen sehr staunen.«
»Ich glaube eher, sie wären entsetzt.«
»Ach was«, sagt Philip. »Man könnte sie etwas exzentrisch finden. Aber entsetzlich wohl kaum.«
»Ich glaube, sie haben mir ein Zerrbild von der Ehe vermittelt.«
»Ah«, sagt er.
*
Auf dem Flug nach Johannesburg arbeitet Gina. Sie geht die Anweisungen durch, die sie erhalten hat, und stellt gemeinsam mit dem Kamerateam einen Zeitplan auf. Sie drehen eine Serie von Reportagen über die Verbreitung von AIDS in den Townships. Als Gina mit allem Nötigen durch ist, lehnt sie sich zum Schlafen zurück, aber anders als sonst lässt der Schlaf auf sich warten. Gina besitzt die Fähigkeit, überall und jederzeit ein Nickerchen einzulegen – warum will ihr das jetzt nicht gelingen?
Unterschwellig nagt ein Problem an ihr, und dieses Problem heißt Philip, aber sie gestattet sich nicht, darüber nachzudenken. Warum war er die letzten ein, zwei Tage so still? Irgendwie geistesabwesend, abweisend fast. Ist er …? Sind sie …? Nein, nein.
Sie denkt nicht an Philip, darf nicht an ihn denken. Nein, es liegt an einer Gedankenverknüpfung; sie kann nicht einschlafen, weil ihr vorhin, als sie die Duty-free-Broschüre durchgeblättert hat, eine Parfümwerbung ins Auge gestochen ist, ganzseitig, mit einem frei schwebenden Miss-Dior-Flakon – der Gina sofort nach Allersmead versetzt, zu jenem Weihnachtsfest. Natürlich absurd, das Nebeneinander von Allersmead und einem Parfümflakon. Aber so funktioniert das Gedächtnis nun einmal.
*
Alison wickelt den Flakon aus und starrt ihn an. »Du meine Güte«, ruft sie. » Parfüm . Aber ich habe eigentlich nie … Was für eine wunderbare Idee – Parfüm. Von wem …? Wo ist das Kärtchen? Ach, von dir, Sandra. Aber ich weiß nicht recht, Schatz, wirklich, ob ich je …«
»Wenn du es nicht willst«, sagt Sandra, »dann nehme ich’s wieder mit und tausche es gegen einen Fünfjahresvorrat Spüli um.«
»Darf ich mal riechen?«, fragt Clare. »Ohhh – fantastisch . Ich nehm’s gern.«
Das Wohnzimmer in Allersmead ist voller Menschen, zerknittertem Geschenkpapier und gehorteten Haufen ungeöffneter Geschenke. Über dem schon stark abgetragenen Päckchenberg thront der Weihnachtsbaum, er trieft vor Lametta, an seinen Zweigen glitzern Kugeln und Glocken, der Engel neigt sich schief von der Spitze herab wie seit unzähligen Jahren. Der Hund ist vor dem Kamin zusammengesackt, das Feuer versengt fast sein Fell. Die Familie ist vollständig. Die Auflösung hat zwar stattgefunden, alle sind weg, sogar Clare, die jetzt die Ballettschule besucht, aber der Aufbruch ist nicht endgültig, alle kommen an Weihnachten zurück. Durch die offene Tür wehen Schwaden von Truthahnduft herein.
Gina betrachtet den Miss-Dior-Flakon, an dem Alison nun vorsichtig schnuppert. Ein bedeutungsschweres Geschenk, ein Wink, was Mum sein könnte, eine Verneinung dessen, was sie tatsächlich ist. Aber viele Geschenke sind mit Bedeutung aufgeladen, nicht wahr? Alison hat Charles eine Bohrmaschine geschenkt (»Ich dachte, man weiß ja nie, vielleicht macht es ihm Spaß , Regale an die Wand zu dübeln oder so«); Charles hat Alison Mrs. Beetons Kochbuchklassiker geschenkt, in einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert, die Alison verwirrt bestaunt: »Oh, Küche von anno dazumal, ist das nicht spannend?«
Übrigens das einzige Geschenk, das Charles selbst erworben und eingepackt hat. Der Rest seiner Gaben fließt in die von Alison mit ein, eine Flut von Geschenken ihrer Wahl: »Frohe Weihnachten von Mum und Dad«. Und beim Shetlandpullover für Ingrid: »… von Alison und Charles«.
Der Shetlandpullover scheint nicht sonderlich mit Hintergedanken befrachtet. Ingrid zieht ihn sofort über.
»Sehr schön«, sagt Alison. »Genau die richtige Farbe für dich – das habe ich mir schon gedacht. Ich habe ein bisschen geschwankt, es gab auch einen in Grün, aber der blaue ist genau richtig. Rogerschatz, wenn diese Socken zu klein sind … ich kann’s immer noch nicht glauben, dass du jetzt eine
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