Familienalbum
Boutique übernommen. Deren Besitzerin hat inzwischen erkannt, dass Sandra mit ihrem Geschick als Einkäuferin, dem exotischen Charme der Engländerin und ihrem blendenden Aussehen ein unwiderstehlicher Magnet für ihre Kundinnen ist. In der Boutique weiß man nichts von Sandras neuem Interesse – das geht niemanden etwas an –, und so hat die Besitzerin keine Ahnung, dass Sandras Tage dort vielleicht gezählt sind.
Mario weiß von Sandras Aktivitäten in Sachen Luxusimmobilien und meint, wenn sie in diesem Tempo weitermache, sei sie auf dem besten Weg, eine reiche Frau zu werden. Sandra weist ihn darauf hin, dass man bei diesem Spiel genauso gut auf dem Bauch landen könne, und er solle sich lieber nicht auf ihren Reichtum verlassen. Mario neckt sie, er werde trotzdem bei ihr ausharren, in der Hoffnung, dass sie ihn eines Tages aushält. Aber er kennt Sandra und weiß, dass sie niemanden mitschleppt; er schätzt die Natur ihrer Beziehung und wird wahrscheinlich abspringen, bevor sie ihn rausschubst. Während Sandras Londontrip hatte er Zeit zum Nachdenken; er stellte fest, dass es ihr mit ihrer Haltung zu Kindern ernst ist und er vielleicht in einiger Zeit anders denken wird. Schließlich ist er Italiener und hat eine Mutter, die mit dem Zaunpfahl winkt. Mamma hat deutlich durchblicken lassen, dass sie von Sandra, mit der er sie einmal besuchen kam, nicht viel hält: Sie sei zu alt, zu ausländisch und habe offensichtlich keine Ahnung vom Haushalt.
Sandra hat Mario noch nie mit nach Allersmead genommen, genauso wenig wie ihre anderen Männer. Sie fährt selbst nicht oft hin, schneit nur in großen Abständen mit einer Handvoll teurer Geschenke herein: edlen Weinen, Delikatessen. Sie merkt selbst, dass diese Geschenke ein gewisses Unbehagen verraten, Schuldgefühle oder das Bedürfnis, die Eltern für ihre Abwesenheit zu entschädigen, oder alles drei. Wenn ihre Mutter Geburtstag hat, schickt sie verschwenderische Blumenbouquets.
In der Zeit der Abtreibung musste sie unwillkürlich an Allersmead denken, an die Familie, und sieht dies als Zeichen von Schwäche und Regression. Eine Abtreibung ist bekanntermaßen traumatisch. Sie erinnert sich, dass sie auch beim ersten Mal, als sie noch viel jünger war, einen Schwächeanfall hatte. Eine Kollegin bei der Zeitschrift hatte sie dabei überrascht, wie sie im Klo herumheulte, und Sandra hatte sich ihr anvertraut. Die Kollegin floss über vor Mitgefühl, Lebensweisheit und guten Ratschlägen: »Ich weiß, dass ein paar Leute zum Therapeuten gehen, und vielleicht hast du auch schon daran gedacht, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass eine Aussprache mit jemandem, der dir nahesteht … Weiß deine Mutter davon?«
Da hatte Sandra gerufen: »Meine Mutter ist ja der Grund, warum ich keine Kinder will!«
Wirklich? Heute wäre Sandra vorsichtiger mit solchen Äußerungen, besitzt selbst mehr Lebensweisheit. Sie will keine Kinder, weil die sich nicht mit ihrem Lebensstil vertragen; zum Glück fühlt sie sich zu Kindern nicht besonders hingezogen. Und ja, auch dieses Fundament von Erinnerungen spielt eine Rolle, diese Schicht in ihrer Psyche, die bestimmte Reaktionen, bestimmte Vorbehalte, einen bestimmten Widerwillen auslöst.
Niemals wird sie es dulden, dass ihr Bad von Quietschenten verunstaltet wird. Nie wird sie schleimigen Brei in den Mund eines sabbernden Kleinkinds löffeln. Niemals wird ihr Zuhause zu einem Heiligtum werden, das mit Kinderzeichnungen geschmückt ist, mit klobigen Tontieren, Kindertassen und quadratmeterweise Erinnerungsfotos. Na schön, genau so sieht es in Allersmead aus, aber wo sonst hätte sie gelernt, was sie meiden muss wie die Pest? Allersmead hat ihren Geschmack geprägt, ihre Gewohnheiten geformt, und damit weiß sie genau, was sie nicht will. Vielleicht der Grund, warum sie jetzt in Rom Luxuswohnungen schafft, die sich von Allersmead unterscheiden wie ein Penthouse von einer Strandhütte. Gleichwohl sieht sie, wenn sie Allersmead unvoreingenommen, mit neuen Augen betrachtet, was sie daraus machen könnte: Alte Kästen aus dieser Zeit sind heute unglaublich gefragt, man könnte Allersmead mit weiteren viktorianischen Elementen aufmöbeln, mit noch mehr Buntglasfenstern, Bädern mit Mahagonitäfelung, einem historischen Garten, einem Tennisplatz, einem Krocketrasen.
Aber das Haus war nur die Kulisse. Was darin vor sich ging, war im wahrsten Sinn des Wortes Alisons Schöpfung. Das Mutterdasein war ihre Berufung, und ich habe keine Ahnung, ob
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