Familienalbum
zu sprechen gekommen. Da läuteten bei Sandra die Alarmglocken, obwohl sonst noch alles zufriedenstellend lief. Jede Andeutung einer dauerhaften Bindung versetzte sie in Unruhe; sie begann Dinge an ihm zu bemerken, an denen sie sich bisher nicht gestoßen hatte – seine ewig gleichen Witze, den Zustand, in dem er das Bad hinterließ, dieses Sakko . Der Sex wurde lau. Die Zeit war abgelaufen.
Sie wirft die Zeitung auf den Rücksitz und fädelt sich in den Verkehr ein. Mittags ist sie mit einer alten Freundin verabredet. Sie und Mary kennen sich schon ewig, haben zusammen bei einer Zeitschrift gearbeitet. Mary schrieb die »Schönheitstipps«, Sandra beantwortete Modefragen. Mary macht hier ein paar Tage Urlaub mit ihrem Mann, der in die Sixtinische Kapelle geschickt wurde, während sie mit Sandra beim Lunch plaudert, von Frau zu Frau. Die beiden haben sich seit Jahren nicht gesehen.
Mary sitzt im Restaurant schon am Tisch. Als sie aufsteht und winkt, sieht Sandra sofort, dass sie schwanger ist. Ach du liebes bisschen! Mary ist neununddreißig und eine genauso überzeugte Kinderabstinenzlerin wie sie, hatte Sandra gedacht. Bei den Antipasti stellt sich heraus, dass Mary und James sich die Sache in den letzten ein, zwei Jahren noch einmal überlegt haben.
»Und weil ich allmählich in die Jahre komme«, sagt Mary, »hieß es: jetzt oder nie.«
In ihrer Welt kommen tatsächlich beide in die Jahre, Mary und Sandra. Die Mädchen auf den Laufstegen sind sechzehn, achtzehn. Und mit achtundzwanzig erledigt. Die Fotografen sind – wie Mario – schlanke, schwarz gekleidete Mitt- bis Endzwanziger, Mario selbst ist mit dreiunddreißig nicht mehr der Jüngste. Über vierzig sind nur die Herausgeberinnen – die Königinnen der Zeitschriftenwelt – oder die Kundinnen der Boutique, die reich genug sind, um dort einzukaufen, weil sie entweder selbst einen Haufen Geld verdienen oder von einem Mann subventioniert werden, Frauen, die nur ein Ziel haben: die Zeit an der Gurgel zu packen und anzuhalten, dünner, eleganter, hohlwangiger und faltenfreier zu sein, um sich ein paar Jahre wegzuraspeln.
Und jetzt steht Mary mit einem Bauch da, auf den sie unübersehbar stolz ist, mit der Andeutung eines Doppelkinns, Krähenfüßen und wild wuchernden Augenbrauen.
»Du siehst fantastisch aus«, sagt Mary. »Dieses Kleid …«
Sandra empfindet ein seltsames Unbehagen. Ist es die Schwangerschaft? Oder Marys offensichtliche Selbstzufriedenheit? Von der Abtreibung wird sie nichts verlauten lassen, so viel ist klar.
»Ich weiß, was du denkst«, sagt Mary. »Ich war Vollaktivistin an der Kinderlosenfront, genau wie du.« Sie zieht ein drolliges Gesicht. »Dann hat sich etwas geändert. Bei uns beiden, James und mir … Und das ist dabei herausgekommen.« Sie tätschelt ihren Bauch.
Mary ist klein, adrett und trägt diese eng anliegenden Schwangerschaftsklamotten, die den Bauch eher betonen als überspielen wollen. Sandra erinnert sich an die diskreten Hänger von früher. Mit Fruchtbarkeit wird heutzutage offen geprotzt. Sie denkt an Alison; vielleicht war ihre Mutter ihrer Zeit voraus.
»Wir hätten gern zwei«, sagt Mary. »Aber jetzt sehen wir erst mal, wie es mit einem läuft. Ich war ein Einzelkind, und James behauptet, ich sei egozentrisch. Du hast massenhaft Geschwister gehabt, stimmt’s?«
Sandra lächelt. »Das kann man wohl sagen. Und folglich bin ich die Großzügigkeit und Selbstaufopferung in Person. Ganz im Gegenteil – in einer großen Familie lernt man, mit schmutzigen Tricks zu kämpfen und für sich selbst zu sorgen. Als ich sieben war, habe ich anscheinend meine ältere Schwester in einen Teich gestoßen.«
»Wirklich? Ist das die, die manchmal im Fernsehen kommt?«
»Gina. Ja.«
»Na, sieht so aus, als hätte es ihr nicht geschadet.«
»Und wir sind in den Keller gegangen und haben zwischen Spinnen und schwarzen Käfern Fantasiespiele gespielt. Ich habe mit meinem Bruder immer gestritten, wer James Bond sein darf.«
»Genial«, sagt Mary. »Himmlisch. Ihr hattet vielleicht ein Glück!«
Hatte ich, hatten wir tatsächlich Glück? Sandra sieht Mary über den Tisch hinweg an, wird aber wieder nach Allersmead in den Keller zurückversetzt: der feuchte Muff, die Atmosphäre aufgeregter Spannung, jeder Realität entrückt; jede Skepsis war außer Kraft gesetzt, sie tauchten in andere Welten ein, ein Spiel und doch kein Spiel – nichts seither hat sie so völlig in den Bann gezogen. Meere voller Haie, heulende
Weitere Kostenlose Bücher