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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Präriewölfe, in den Ecken die geduckten Schatten der Daleks. »Iss eine Spinne!«, befiehlt Paul. Hab ich sie gegessen?
    Sandra zuckt mit den Achseln. »Also, sechs müssen es nicht unbedingt sein. Meine Mutter war …« Sie hält inne.
    »Ein Nervenbündel«, sagt Mary. »Völlig k. o., möchte ich wetten. Nein, nein – ich bleib bei einem. Zwei kann ich mir auch noch vorstellen.«
    Du bist auf dem falschen Dampfer, denkt Sandra, aber egal. Meine Mutter war weder ein Nervenbündel noch völlig k. o., sondern im Großen und Ganzen euphorisch. Erfüllt. Zahlen sind wichtig – wir waren ihr Kontoauszug. Quantität zählt. Wir waren die größte Familie in unserer Straße, an unserer Schule, in der ganzen Stadt, könnte ich mir denken. Sie war konkurrenzlos. Und natürlich blieb der kleine, einmalige Ausrutscher in der Familie. Wer sollte davon erfahren? Wer weiß davon? Nur wir – und wir sind nie rumgelaufen und haben Tratsch verbreitet. Die Familie hält zusammen. Sandra überlegt, ob sie ein Trumpfass ins Gespräch werfen soll, das Mary sicher plätten würde: Genau genommen war eins von uns Kindern nicht von ihr.
    »Dann mach das«, sagt sie. Plötzlich langweilt sie das Gerede. Sie würde Mary gern das schwarze Marmorbad beschreiben, das sie und Luigi so hingebungsvoll geplant haben, aber sie hält lieber den Mund. Luxussanierung ist nichts, womit man andere – andere Luxussanierer ausgenommen – beeindrucken kann. Das hat den Ruch des Unanständigen, Kommerziellen, der Raffgier sogar. Was vielleicht auch alles zutrifft. Aber Sandra findet sich nicht raffgierig. Eher kreativ. Die Bäder, die Küchen, der Schmelz der Farben. Und die Befriedigung, wenn sich auch die Zahlen als kreativ erweisen, wenn x + y zu x + y + z wird. Falls das Raffgier ist, dann sollte sie dafür plädieren, Raffgier als Kunstform einzuführen. Und Geld ist schließlich nur Legende. Man sieht es nie, fasst es nie an – nur auf dem Monitor tickt der Zähler. Selbst ein Börsenmakler kommt echtem Geld näher als sie. Sogar die Boutique, wo Kreditkarten gezückt werden. Die Boutique ist Kommerz, hier blühen die Zahlen. Aber nicht mit solcher Schlichtheit, solcher Eleganz.
    Also schiebt Sandra ihr brennendstes Interesse beiseite und lässt das Gespräch treiben; es fließt in durchaus angenehmen Bahnen. Als sie fertig gegessen haben, umarmen sie sich und gehen ihrer Wege. Sandra sieht Mary nach, wie sie ihren Bauch vor sich herschiebt, fröhlich betont durch das hautenge Top mit den Wespenstreifen, das sie über der Jeans trägt. Vermutlich werden sie einander in Zukunft noch weniger sehen.
    Wenige von Sandras Freundinnen haben Kinder. Wie Sandra sind sie kinderlos, weil sie es so wollen, häufig aber auch, weil sie den Zug verpasst haben – irgendwie ist das Leben vorbeigerauscht, zu hektisch, zu anstrengend, und sie sind nie dazu gekommen. In Italien ist das etwas ungewöhnlich; Kinder gehören hier einfach dazu. Das Land ist schließlich katholisch; die meisten hier sind Katholiken, zumindest auf dem Papier. Eine Familie mit sechs Kindern wäre nichts Ungewöhnliches. Man merkt schnell, dass es in Italien von Jugendlichen nur so wimmelt – die Straßen quellen über von ihnen, ihre selbstbewussten Stimmen schallen durch die Luft. Das Knattern ihrer Vespas betäubt einem die Ohren. Jugend wimmelt auch woanders. Natürlich. In Brixton, Bradford oder Glasgow. Aber Italiens Jugend ist aufdringlicher, beherrschender. Von den putti , die auf Brunnen herumtollen oder an Stuckdecken flattern, bis zu den Strömen von Schulkindern, die die Gehwege überschwemmen und den Verkehr aufhalten, scheint sich die Stadt herausfordernd und farbenprächtig zu reproduzieren, zu regenerieren.
    Meine Mutter wäre begeistert, denkt Sandra, als sich der Verkehr vor einer schier endlosen Reihe von Kleinkindern in Kitteln staut, die über die Kreuzung gewunken werden. Aber natürlich ist ihre Mutter nie nach Rom gekommen. Sie sind nie gereist. Für uns gab es keine Ferien an der Algarve.
    Mochte sie überhaupt Kinder um ihrer selbst willen, oder nur ihre eigenen Kinder als Bestätigung, als Versicherung, als Beweis ihres Muttertalents? Ihre eigenen Kinder? Und was ist mit Clare? Clare wurde genauso behandelt wie alle anderen, ich erinnere mich nicht, dass sie je im Geringsten benachteiligt wurde. Und die Tatsachen blieben natürlich unter den Teppich gekehrt. Wir waren die Familie, Schluss, aus.
    Die Knirpse haben die andere Straßenseite sicher erreicht, der

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