Familienalbum
ließ Dad die Welt großenteils an sich vorbeiziehen, er schaute einfach in eine andere Richtung.
Sandra hat sich die Bücher angesehen. Wenn er nicht da war, ist sie in sein Arbeitszimmer geschlichen, hat die Titel betrachtet, hat darin gelesen. Wenn sie es sich wirklich vornahm, wenn sie sich hinsetzte und ganz darauf konzentrierte, konnte sie dem Inhalt gut folgen. Es mangelt ihr nicht an Intelligenz. Wenn sie wollte, bekam sie in der Schule gute Noten. Wenn sie zeigen wollte, dass sie genauso gut war wie Gina, wenn sie gerade Lust hatte. »Sandra hat eine gute Auffassungsgabe …«, stand immer in ihren Zeugnissen, was in der Lehrersprache hieß, dass sie nicht dumm war, »… aber sie kann sich nicht immer entschließen, sich zu bemühen.« Die Schule war lästig, man ließ sie einfach über sich ergehen und wartete auf die Befreiung.
Dads Bücher müssen ziemlich viele Leser gefunden haben; sie wurden gekauft oder aus Büchereien ausgeliehen. Er hat Geld da für bekommen. Plötzlich sieht Sandra eine Masse von Fremden vor sich, die Sorte Menschen, die sie nicht kennt, die nach Büchern suchen, zu denen Sandra nie greifen würde. Die Vorstellung hat etwas Quälendes – man macht sich nicht gern bewusst, dass man von einem ganzen Teil der Gesellschaft abgeschnitten ist, auch wenn es Leute sind, die einem sowieso auf den Wecker gehen würden. Dads Kunden. Die völlig anders sind als die Kundinnen ihrer Boutique, so viel steht fest. Aber die salatgenährten Zicken kann Sandra genauso wenig ausstehen.
Habe ich etwas verpasst?, fragt sich Sandra. Wenn ich mich hingesetzt und Dads Bücher und Ähnliches gelesen hätte, wäre ich dann heute eine andere und würde mit unvorstellbar anderen Leuten verkehren?
Leuten wie Dad? Nein, unmöglich, Klone von ihm kann es nicht in größeren Mengen geben. Und wenn, dann hat auch er sie nie kennengelernt. Dad hatte keine Freunde, Kollegen, Leute, die einfach mal vorbeischauten oder anriefen.
Sie blickt aus großem Abstand auf diese einsame Gestalt und empfindet ein gewisses Bedauern. Da hat man die ganzen Jahre mit ihr gelebt und weiß nichts von ihr.
*
Er sagt zu ihr, wäre sie ein zwölfjähriges Mädchen in Afrika, dann hätte sie Narben auf den Wangen. Er macht eine Bemerkung über ihre grünen Fingernägel, da fallen sie Mum überhaupt erst auf.
Er kommt in die Küche, aus seinen Händen quillt eine Unmenge Papierstreifen. »Wer war das?«, donnert er.
Übrigens – wer ist das eigentlich gewesen?
Gina schenkt ihm zu Weihnachten einen Brieföffner, und er fragt, ob er damit seine Feinde erdolchen soll.
Er geht in Crackington Haven allein auf dem Klippenpfad spazieren und starrt aufs Meer. Er sieht sie nicht.
*
Seine körperliche Präsenz lässt sich sehr gut aufrufen. Diese leicht gebeugte Haltung, die markante Hakennase, die er immer wieder krauszieht, um seine Brille nach oben zu rücken. Ach ja, die Brille – immer verschmiert, immer dringend polierbedürftig. Seine Kleidung, jedes Stück noch lebhaft gegenwärtig. Diese Hemden mit dem Button-down-Kragen (ausgefranst) – die blauen Jeanshemden, das rote, das grün karierte. Diese unsägliche braune Strickjacke mit der Vorderseite aus Wildleder. Der graue Pullover und der schwarze. Das Tweedsakko mit den Lederflicken an den Ellbogen. Der beige Regenmantel mit Gürtel.
Eigentlich sah – sieht – er ziemlich gut aus. Scharf geschnittene Gesichtszüge. Es heißt, dass Frauen – manche Frauen – einen Mann suchen, der ihrem Vater gleicht. Sandra geht die Reihe ihrer Männer durch und findet niemanden, der ihm im Geringsten ähnelt. So viel dazu. Oder lehnt sie ihn ab? Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Ihrem Vater, Sandra.
Welche Beziehung? Sie versucht, sich und Charles aus der Familie herauszuschälen, eine persönliche, besondere Beziehung zu entdecken, doch es gelingt ihr nicht. Väter verfügen vermutlich nur über eine begrenzte Menge Aufmerksamkeit für ihre Familien, die in seinem Fall auch noch durch sechs zu teilen ist. Ein Sechstel womöglich eher oberflächlicher väterlicher Aufmerksamkeit. Sandra durchforstet ihre Vergangenheit, um das Besondere ihres persönlichen Sechstels wiederzufinden. Wann und wie habe ich gespürt, dass er mein Vater war und nicht nur unser ? Welche kleinen Privatscherze gab es zwischen uns beiden, nur zwischen ihm und mir? Wann haben wir miteinander geplaudert? Vergiss es, Sandra, du weißt genau, dass er weder gescherzt noch geplaudert hat. Gut, dann eben:
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