Familienalbum
Verkehr braust weiter und reißt Sandra mit sich. La famiglia ist in Italien so gut wie heilig, ein handfester Grund, die Beziehung mit Mario in gewissen Grenzen zu halten und nie diese haarsträubende Mutter zu vergessen. Keine Angst, mamma , ich habe nicht vor, mir deinen kleinen Jungen zu schnappen und mich in deine erstickende Umarmung zu begeben. Meine Mutter ruft wenigstens nicht dauernd an, um zu berichten, dass sie gleich einkaufen geht oder der Fensterputzer da war.
Als Sandra die Treppe zu der Wohnung hinaufsteigt, die sie im Moment mit Mario teilt, kreisen ihre Gedanken immer noch um Familie, ihre Familie, Allersmead. Ihre Wohnung hat große Fenster mit einem weiten Ausblick auf einen Park und ein Stück goldenes Rom, kühle Steinböden, ein riesiges, helles Ledersofa und einen niedrigen Glastisch, auf dem immer Blumen stehen. Ihre Wohnung ist elegant und ruhig, aufgeräumt und nicht mit Gerümpel zugemüllt, die Bilder hängen präzise, an makellosen, wie frisch gestrichenen Wänden. Diese Wohnung ist eine Million Meilen von Allersmead entfernt.
Als Sandra noch in Allersmead lebte, noch ein Kind war, hatte sie in Zeitschriften kurze Blicke auf solche Alternativwelten werfen können. Das Wartezimmer des Zahnarztes hielt Offenbarungen bereit. Aufmerksam hatte sie erstaunliche Innenräume studiert: So also konnte man auch wohnen. Und hatte gewusst, dass sie selbst so wohnen würde, wenn die Zeit reif wäre.
Aber an diesem Nachmittag schiebt sich das Bild Allersmeads vor ihre Einrichtung. Sie wandert durch die virtuelle, aber unendlich vertraute Realität ihres Elternhauses, durch das Wohnzimmer mit den schäbigen Chintzsofas und -sesseln, den ausgeblichenen blauen Vorhängen, dem Kelimläufer vor dem Kamin, durch die Küche mit dem großen, verkratzten Tisch, Schauplatz Tausender Familienmahlzeiten. Sie schlendert nicht etwa in nostalgischer Stimmung herum, sondern neugierig, überrascht sogar. Es kommt ihr merkwürdig vor, dass sie hier gelebt hat, so lange hier gelebt hat, ohne, wenn man es so nennen möchte, »draufzukommen«.
Aber wahrscheinlich bin ich als Erste draufgekommen, denkt sie. Ich erinnere mich noch daran, wie ich dachte, dass wir nicht wie andere Familien sind, keine normale Familie. Mum und Dad haben so gut wie nie miteinander geredet, und dann ist da auch noch Ingrid, die zur Familie gehört und auch wieder nicht, und schließlich Clare. Auch Gina hat sich so ihre Gedanken gemacht, aber wir haben uns nicht viel ausgetauscht. Und als ich siebzehn war oder so, ist es mir ständig aufgestoßen. Nicht die Einrichtung, nicht die allgemeine allersmeadsche Umgebung, das alles ließ mich damals schon kalt. Mir fiel auf, dass unsere Familie ziemlich verschroben war, richtige Sonderlinge, ein Haufen verkorkster Spinner.
Wie ich mich dabei gefühlt habe? Ziemlich verzweifelt. Und Clare hat mir leidgetan. Ich fand, jemand sollte sich hinsetzen und alles mit ihr bereden. Mit uns anderen übrigens auch.
Jetzt sehe ich alles anders. Ich sehe drei Menschen, denen die Dinge dramatisch entgleist waren, die wahrscheinlich von Anfang an nie hätten zusammenleben sollen. Ich sehe sie weiterwursteln, weil keiner die Aussicht ertragen konnte, einen anderen Weg einzuschlagen. Sie waren zur Lebensgemeinschaft verdammt.
Das Telefon klingelt, und Allersmeads virtuelle Realität verflüchtigt sich zusammen mit Sandras Grübeleien. Damals war damals, jetzt ist jetzt – und jetzt wird telefoniert. Sandras Vertreterin in der Boutique gelingt es nicht, eine Kundin zu besänftigen, deren bestelltes Kleid nicht zum versprochenen Tag eingetroffen ist. Sandra kennt die Kundin gut, die Frau eines reichen Industriellen, für die Shoppen ihr Beruf ist; solche Kunden stößt man nicht vor den Kopf. Sie spricht selbst mit der Frau, versichert ihr, auf der Stelle brachial durchzugreifen; sie beschwichtigt, schmeichelt, kriecht sogar – und danach verachtet sie sich selbst. Diese Frau ist ein hohlköpfiger Parasit, auch für sie und ihresgleichen hat Sandra nur Verachtung übrig. Aber die Modewelt ist voll von solchen Frauen, sie sind es, für die diese Welt überhaupt existiert.
Das ist das Problem mit der Mode. Das hat Sandra längst erkannt, schon damals, als Kleider und alles, was sich damit anfangen lässt, sie zu faszinieren begannen. Was die Mode hervorbringt, ist großartig und betörend, die Stoffe, die Stile, die Raffinesse der Entwürfe. Die Mode ist eine hoch entwickelte Handwerkskunst, die zudem entscheidet,
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