Familienbande
Stundenkilometern Geschwindigkeit vorwärts, sondern bewegt sich mit neunzig in die andere Richtung. Wohlan, Sir, als die Fliege stirbt und die Bewegungsrichtung ändert, muß da nicht für nur eine Millionstelsekunde auch die Lokomotive durch den Aufprall der Fliege anhalten, und trifft es nicht zu, was in einem direkteren Zusammenhang mit unserem Thema steht, daß die Fliege bei bester Gesundheit dahinscheidet?«
Mr. Bullstrode schenkte sich Portwein nach und sann über das Problem nach, doch der Doktor zog vom Leder. »Wenn die Lokomotive auch nur den millionsten Teil einer Sekunde anhielt, worüber ich mich, da ich kein Ingenieur bin, nicht äußern kann, also mit Ihrem Wort vorlieb nehmen muß, dann trifft andererseits zu, daß die Fliege eine Millionstelsekunde lang alles andere als gesund war. Um zu erkennen, daß dem so ist, müssen wir lediglich die Zeit in Relation zu der Lebenserwartung einer Fliege setzen. Das normale Leben einer Fliege beschränkt sich meines Wissens auf einen einzigen Tag, während das Leben des Menschen siebenzig Jahr währet, Anwesende ausgenommen. Kurz gesagt, eine Fliege kann sich auf ungefähr sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden bewußter Existenz freuen, während der Mensch mit zwei Milliarden einhundertsiebzig Millionen fünfhundertzwanzig Sekunden zwischen Geburt und Tod rechnen kann. Ich überlasse es Ihnen, den Unterschied der Lebensdauer von einer Millionstelsekunde für die Fliege und deren Äquivalent für den Menschen zu bestimmen. Über den Daumen gepeilt würde ich für letztere die Größenordnung von fünfeinhalb Minuten errechnen. Zweifellos Zeit genug, um einen Patienten als nicht gesund zu diagnostizieren. «
Nachdem er das Fliegenargument und den restlichen Inhalt seines Glases weggeputzt hatte, lehnte Dr. Magrew sich in seinem Sessel zurück.
Nun war Mr. Bullstrode an der Reihe, das Problem mit juristischen Methoden anzugehen. »Nehmen wir die Frage der Todesstrafe«, sagte er. »Die Justiz hielt sich einiges darauf zugute, daß niemand an den Galgen kam, der nicht zum Hängen tauglich war. Nun ist ein tauglicher Mensch ein gesunder Mensch, und da der Tod durch Erhängen sofort eintritt, starb ein Mörder gesund.«
Aber Dr. Magrew ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. »Wortklauberei, Sir, reine Semantik. Sie sagen, ein dem Galgen überantworteter Mörder sei zum Hängen tauglich gewesen. Ich hingegen bin der Ansicht, niemand, der mordet, ist lebenstauglich. Wir können die Dinge auch auf den Kopf stellen. Das hängt alles vom jeweiligen Standpunkt ab.«
»Aye, das ist der springende Punkt«, sagte Mr. Flawse. »Von welchem Standpunkt aus sollte man die Dinge betrachten? Nun also, da ich einer festeren Grundlage als der von meiner eigenen Erfahrung bereitgestellten entbehre, die sich weitgehend auf Hunde und ihre Gewohnheiten beschränkt, würde ich sagen, daß wir auf der Evolutionsskala ein wenig tiefer als bei den Primaten ansetzen sollten. Bei uns hört man gelegentlich das Sprichwort‹Ein Hund frißt den anderem. Wer sich das ausgedacht hat, hat keine Ahnung von Hunden. Hunde fressen keine Hunde. Sie jagen in Rudeln, und ein Rudeltier ist kein Kannibale. Es ist auf seine Artgenossen angewiesen, wenn es gilt, ein Beutetier zur Strecke zu bringen, und daher hat es die Moral eines sozialen Wesens; eine instinktive Moral zwar, aber immerhin eine Moral. Der Mensch dagegen kennt keine natürliche oder instinktive Moral. Dies beweist uns der geschichtliche Prozeß, und die Geschichte der Religion ebenfalls. Gäbe es eine natürliche Moral im Menschen, wären Religion oder sogar Gesetze überflüssig. Und doch hätte der Mensch ohne Moral nicht überlebt. Ein weiteres Rätsel, meine Herren: Die Wissenschaft zerstörte den Glauben an Gott, auf dem die Moral gründete; zudem lieferte die Wissenschaft dem Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu vernichten; kurzum, uns fehlt der Sinn für Moral, der uns in der Vergangenheit vor dem Aussterben bewahrt hat, dafür haben wir die Möglichkeit, uns in Zukunft zu vernichten. Eine trostlose Zukunft, meine Herren, die ich hoffentlich nicht mehr erleben muß.«
»Und welchen Rat würden Sie künftigen Generationen geben, Sir?« erkundigte sich Mr. Bullstrode.
»Denselben, den Cromwell seinen Rundköpfen gab«, sagte Mr. Flawse. »Auf Gott vertrauen und das Pulver trocken halten.«
»Wobei man davon ausgeht, daß Gott existiert«, sagte Dr. Magrew.
»Wobei man keineswegs von so etwas ausgeht«, widersprach Mr.
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