Familienbande
verschwammen. »Sie haben nicht gelesen: ‹Falls mich meine Frau Cynthia Flawse verlassen sollte...¤ Oh mein Gott!« Dann sank sie auf ihren Stuhl. Da stand die Klausel schwarz auf weiß.
»Und nun, da das Ding ordnungsgemäß unterschrieben und ausgefertigt ist«, erklärte Mr. Flawse, als Bullstrode das bemerkenswerte Dokument faltete und in seine Aktentasche steckte, »laßt uns auf den Tod anstoßen.«
»Auf den Tod?« sagte Jessica, immer noch wie betäubt von der bizarren Romantik der Szenerie.
Mr. Flawse tätschelte liebevoll ihre rosige Wange. »Auf den Tod, meine Liebe, das einzige, was uns gemeinsam ist, der große Gleichmacher! Mr. Dodd, die Karaffe mit northumbrischen Whisky.«
Mr. Dodd verschwand durch die Tür.
»Ich wußte gar nicht, daß man in Northumbrien Whisky brennt«, sagte Jessica, der der alte Mann immer sympathischer wurde. »Ich dachte, er käme aus Schottland.«
»Du weißt vieles nicht, so auch, daß es northumbrischen Whisky gibt. Früher wurde er in dieser Gegend gallonenweise destilliert, aber heute ist Dodd der einzige, der noch einen Destillierapparat besitzt. Siehst du diese Mauern? Drei Meter dick. Früher gab es bei uns ein Sprichwort: ‹Zwei für die Schotten und einen für den Zollfahnder.¤ Und nur ein sehr gewitzter Mann würde den Eingang finden, doch Dodd kennt ihn.«
Zum Beweis dieser Behauptung tauchte Mr. Dodd mit einer Karaffe Whisky und einem Tablett Gläser auf. Als die Gläser gefüllt waren, erhob sich Mr. Flawse, und die anderen folgten seinem Beispiel. Nur Mrs. Flawse blieb sitzen.
»Ich weigere mich, auf das Wohl des Todes zu trinken«, murmelte sie stur. »Das ist ein gottloser Trinkspruch.«
»Aye, Ma‘am, und die Welt ist ebenfalls gottlos«, entgegnete Mr. Flawse, »und doch werdet Ihr trinken. Es ist Eure einzige Hoffnung.«
Mrs. Flawse rappelte sich unsicher auf und musterte ihn mit Abscheu.
»Auf den Großen Schnitter«, sagte Mr. Flawse, und seine Stimme hallte zwischen den Streitäxten und Rüstungen wider.
Nach einer im Speisesaal eingenommenen Mahlzeit machten Lockhart und Jessica einen Spaziergang über die Flawse-Hochebene. Die Nachmittagssonne schien auf das struppige Gras hinab, und ein paar Schafe regten sich, als die beiden die Flawse-Hügel erklommen.
»O Lockhart, nicht um alles in der Welt hätte ich den heutigen Tag missen mögen«, sagte Jessica, als sie oben angekommen waren. »Dein Großvater ist der reizendste alte Mann, den man sich denken kann.«
Dieser Superlativ wäre Lockhart für seinen Großvater nicht eingefallen, und Mrs. Flawse, die bleichgesichtig auf ihrem Zimmer saß, hätte das genaue Gegenteil verwendet. Doch beide behielten ihre Ansichten für sich. Lockhart, weil Jessica sein geliebter Engel war und ihre Meinung nicht in Frage gestellt werden durfte, und Mrs. Flawse, weil ihr niemand zuhörte. Unterdessen saßen Mr. Bullstrode und Dr. Magrew porttrinkenderweise mit Mr. Flawse um den Mahagonitisch und führten die Sorte philosophischer Gespräche, für die sie ihr gemeinsamer Hintergrund prädestinierte.
»Daß Sie einen Trinkspruch auf den Tod ausbrachten, kann ich nicht gutheißen«, ließ Dr. Magrew verlauten. »Das steht im Widerspruch zu meinem hippokratischen Eid, außerdem ist es ein Widerspruch in sich, auf das Wohl und die Gesundheit von etwas zu trinken, das per se eben nicht der Gesundheit förderlich ist.«
»Verwechseln Sie nicht Gesundheit mit Leben?« sagte Mr. Bullstrode. »Und mit Leben meine ich die Lebenskraft. Nun besagt das Naturgesetz, daß jedes Lebewesen sterben muß. Dieser Tatsache können Sie schwerlich widersprechen, Sir.«
»Das kann ich nicht«, sagte Dr. Magrew, »es ist die Wahrheit. Andererseits möchte ich Ihre Befugnis anzweifeln, einen Sterbenden gesund zu nennen. Ich kann mich nicht daran erinnern, in meiner gesamten Laufbahn als Mediziner je am Totenbett eines Gesunden gesessen zu haben.«
Mr. Flawse klopfte an sein Glas, um die Aufmerksamkeit der anderen und die Karaffe zu bekommen. »Meiner Ansicht nach lassen wir den Faktor unnatürlicher Tod unter den Tisch fallen«, sagte er und schenkte sich neu ein. »Sie kennen doch zweifellos das Rätsel mit der Fliege und der Lokomotive. Eine völlig gesunde Fliege fliegt mit dreißig Stundenkilometern Geschwindigkeit in genau die entgegengesetzte Richtung wie eine Lokomotive, die mit neunzig unterwegs ist. Die Lok stößt mit der Fliege zusammen, wobei letztere sofort verstirbt, doch als sie stirbt, fliegt sie nicht mehr mit dreißig
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