Familienbande
Flawse. »Glaube ist eine Sache, Wissen eine andere. Sonst machte man es sich zu einfach.«
»Dann greifen Sie auf die Tradition zurück, Sir«, stellte Mr. Bullstrode beifällig fest. »Ich als Anwalt bin der Meinung, daß Ihre Einstellung vieles für sich hat.«
»Ich greife auf meine Familie zurück«, sagte Mr. Flawse. »Die Vererbung charakteristischer Merkmale ist naturbedingt. Schon Sokrates sagte: ‹Erkenne dich selbst.¤ Ich würde sogar weitergehen und behaupten, um sich selbst zu erkennen, muß man erst seine Ahnen kennenlernen. Dies ist der Grund meiner Anweisungen an den Bastard. Soll er herausfinden, wer sein Vater und sein Großvater und sogar die vor ihnen waren, dann wird er sich selbst finden.«
»Und wenn er sich selbst gefunden hat, was dann?« fragte Mr. Bullstrode.
»Dann soll er er selbst sein«, antwortete Mr. Flawse und nickte ein.
Kapitel 9
Oben, in der Einsamkeit ihres Schlafzimmers, war Mrs. Flawse völlig aufgelöst. Zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte ein Ehemann sie hereingelegt, und dieser Umstand verlangte dringend nach Heulen und Zähneklappern. Doch da sie eine methodische Frau war, die wußte, was ein neues Gebiß kostete, nahm Mrs. Flawse ihre Zähne heraus und legte sie in ein Glas Wasser, bevor sie mit den Kiefern klapperte. Und heulen tat sie auch nicht. Dies wäre eine zu große Genugtuung für ihren Mann gewesen, und Mrs. Flawse war fest entschlossen, ihn für seine Sünden büßen zu lassen. Statt dessen setzte sie sich zahnlos hin und sann über ihre Rache nach. Diese bestand, wie ihr klar wurde, aus Lockhart. Mr. Flawse hatte ihr zwar den ständigen Aufenthalt im komfortlosen Herrenhaus auferlegt, zugleich jedoch seinem Enkel die Aufgabe, seinen Vater zu finden. Erst dann konnte er sie ihres Erbes berauben, und falls seine Suche erfolglos blieb, würde sie das Haus nach dem Tod des Alten so ummodeln, wie es ihr paßte. Sogar die Einkünfte aus dem Anwesen würden ihr zur freien Verfügung gehören. Sie könnte sie Jahr für Jahr akkumulieren und zu ihren Ersparnissen tun, und eines schönen Tages hätte sie genug gespart, um zu verschwinden und nie mehr wiederzukehren. Doch dies alles galt nur für den Fall, daß Lockhart seinen Vater nicht fand. Wenn man Lockhart die für die Suche nötigen Mittel vorenthielt œ und hier dachte Mrs. Flawse sofort an Geld œ, könnte ihr nichts passieren. Sie würde dafür sorgen, daß Lockhart mittellos war.
Sie griff nach ihrer Schreibmappe, entnahm ihr Füller und Papier und verfaßte einen kurzen und bündigen Brief an Mr. Treyer, in dem sie ihn anwies, Lockhart bei Sandicott & Partner fristlos zu entlassen. Nachdem sie den Umschlag verschlossen hatte, legte sie ihn weg, um ihn Jessica zu geben, damit diese ihn in den Briefkasten steckte, oder was den ironischen Aspekt betonen würde, um ihn Lockhart auszuhändigen, damit der ihn persönlich überbrachte. Mrs. Flawse lächelte zahnlos und überlegte sich andere Möglichkeiten der Rache, und als der Nachmittag zu Ende ging, war sie vergnügter gestimmt. Der Alte hatte in seinem Testament verfügt, daß keine Verbesserungen am Herrenhaus vorgenommen werden durften. Sie beabsichtigte, seine Anweisungen buchstabengetreu auszuführen. Es würde keine Verbesserungen, sondern für den Rest seines unnatürlichen Lebens nur das Gegenteil davon geben. Fenster würden geöffnet, Türen aufgesperrt, Essen kalt und Betten noch feuchter werden, bis sich die Altersgebrechen dank ihrer Unterstützung bis zu seinem Ableben häuften. Und der Alte hatte einen Trinkspruch auf das Wohl des Todes ausgebracht. Das war angemessen. Der Tod würde schneller kommen, als er sich träumen ließ. Genau, das war es, Lockhart um jeden Preis aufhalten, den Tod ihres Gatten beschleunigen, und dann würde sie das Testament anfechten, oder vielleicht besser noch, Mr. Bullstrode bestechen, damit er die Auflagen änderte. Sie würde Erkundigungen über den Mann einholen. Mittlerweile mußte sie gute Miene zum bösen Spiel machen.
Nicht nur Mrs. Flawse, auch Lockhart hatte die Testamentsverlesung mißfallen. Wie er mit Jessica auf den Flawse-Hügeln saß, teilte er ihre romantische Interpretation seiner Existenz als Bastard keineswegs.
»Daß es bedeutete, ich habe keinen Vater, wußte ich ja nicht«, erzählte er ihr. »Ich dachte, es sei einfach eins der Schimpfwörter, die er mir an den Kopf warf. Er nennt dauernd irgendwelche Leute Bastard.«
»Aber siehst du denn nicht, wie aufregend das alles ist«, sagte
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