Familienbande
wir uns dem Grabe, entlang den Leitprinzipien unserer Gedanken und Taten, jenen Charakterzügen, denen wir, da wir mit ihnen geboren wurden, sehr zu Dank verpflichtet sind, doch die uns dank ihrer winzigen Sprünge unabsichtlich erlauben, das bißchen Freiheit auszuüben, das den Menschen ausmacht. Aye, den Menschen ausmacht; kein Tier kennt Freiheit; nur der Mensch; und das aufgrund genetischer Defekte und fehlerhafter chemischer Verwandtschaft. Der Rest wird uns in die Wiege gelegt. Wie sehr der Mensch auch einer Maschine ähnelt, in der sich Dampf, Feuer und Druck aufbauen, muß er doch auf vorgegebenen Pfaden auf das Ende zusteuern, das uns alle erwartet. Vor euch steht ein halbes Gerippe, nichts als Haut und Knochen, und nur ein wenig Geist, um dieses ganze Gerumpel zusammenzuhalten. In Bälde wird das Pergament meines Leibes zerbröseln; der Geist wird entfleuchen; und wird meine Seele weiterleben? Weder weiß ich dies, noch kann ich es je erfahren, bis der Tod beschließt, mit ja oder nein zu antworten. Womit ich mich nicht herabsetzen will. Noch stehe ich hier vor euch in diesem Saal, und ihr habt euch versammelt, um meinen letzten Willen zu hören. Meinen Willen? Ein seltsamer Begriff, auf den die Toten Anspruch erheben; ihr Wille; wenn die Entscheidungen ihren Hinterbliebenen aus der Hand genommen wurden; ihr Wille; nur die Mutmaßung eines Wunsches. Doch ich beraube euch dieser Möglichkeit, indem ich euch diesen meinen letzten Willen vorlege; und ich will, daß es so sei, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ich habe Bedingungen abgefaßt, die ihr alsbald hören und erfüllen werdet oder des Vermögens, das ich euch hinterlasse, verlustig gehen sollt.«
Der Alte hielt inne und sah in ihre Gesichter, ehe er fortfuhr. »Ihr fragt euch, warum ich euch mustere?« fragte er. »Um einen Funken von Widerstand in euren Augen zu erblicken. Einen Funken, mehr nicht, einen Funken nur, der diesem halben Gerippe dennoch sagen würde, es soll zur Hölle fahren. Was, wie zumindest ein ironischer Schluß gewesen wäre, tatsächlich meine Absicht war. Doch wie ich sehe, ist dies nicht der Fall; die Habgier bläst die Kerze eures Mutes aus. Ihr, Ma‘am«, dabei zeigte er mit dem Finger auf Mrs. Flawse, »ein auf einem Upasbaum sitzender unterernährter Geier hat mehr Geduld als Ihr, die Ihr mit Eurem Hintern auf jener Bank da hockt.«
Er machte eine Pause, aber Mrs. Flawse schwieg. Ihre kleinen Augen verengten sich vor berechnendem Haß.
»Kann Euch denn gar nichts aus der Reserve locken? Nein, doch Eure Gedanken sind mir bekannt; die Zeit verrinnt; das Metronom von Herzschlägen tickt langsamer, und bald wird mein Trauergesang aufhören, vielleicht ein wenig vor der Zeit; das Grab, in dem ich liege, wird Euch Genugtuung verschaffen. Laßt mich das an Eurer statt vorwegnehmen, Ma‘am. Und jetzt zum Bastard Flawse. Regt sich Widerstand in Euch, Sir, oder hat Euch den Eure Erziehung ausgetrieben?«
»Fahr zur Hölle«, schlug Lockhart vor. Der Alte lächelte. »Besser, besser, aber eben nur nachgeplappert. Ich trug dir auf, was du sagen solltest, und du hast gehorcht. Doch hier folgt eine bessere Prüfung.« Mr. Flawse drehte sich um, nahm eine Streitaxt von der Wand und
hielt sie ihm hin. »Nimm sie, Bastard«, sagte er. »Nimm die Axt.« Lockhart erhob sich und nahm sie. »Wenn ein Mann alt wurde, war es unter den Normannen
Sitte, ihm mit einer Axt den Kopf vom Rumpf zu trennen«, fuhr Mr. Flawse fort. »Es war die Pflicht des ältesten Sohnes. Da ich niemanden habe außer dir, einen im Graben geborenen Bankert von einem Enkel, fordere ich dich auf, diese Pflicht zu erfüllen und ...«
»Nein«, sagte Jessica, stand auf und entriß Lockhart die Axt. »Sie haben kein Recht, ihn in Versuchung zu führen.«
Der Alte klatschte in die Hände. »Bravo. Schon besser. Das Weibchen hat mehr Schneid als der Rüde. Nur ein kurz aufflackernder Schneid, doch nichtsdestotrotz Schneid; vor dem ich den Hut ziehe. Mr. Bullstrode, verlesen Sie das Testament.« Von seiner Ansprache erschöpft, nahm der alte Mr. Flawse Platz. Mr. Bullstrode erhob sich theatralisch und öffnete das Testament.
»Ich, Edwin von Tyndale Flawse, bei klarem Verstand und schwächlichem, doch ausreichend stabilem Körper als Hülle meines Geistes, hinterlasse, vermache und vererbe hiermit alle meine weltlichen Güter, Mobilien, Gebäude und Grundbesitz meiner Frau, Mrs. Cynthia Flawse, damit diese sie solange treuhänderisch verwaltet und nutzt, bis sie selbst
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