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Familienkonferenz in der Praxis

Familienkonferenz in der Praxis

Titel: Familienkonferenz in der Praxis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gordon
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bedanken, das ich ihm geschrieben hätte, und für die Karte, die ich angefertigt hatte. Ich erklärte ihm, wie ich mich überall nach dem richtigen Geschenk für ihn umgesehen, mich aber daran erinnert hätte, dass er immer gesagt hätte, dass es ihm nicht gefalle, wenn die Menschen einfach Geschenke kauften, nur weil es ein besonderer Tag sei. Ich berichtete ihm, dass ich Angst gehabt hätte, ihm das Gedicht zu geben, weil es zugleich glücklich und traurig sei. Er nickte. »Aber«, sagte ich, »ich entschloss mich, dir meine Gedanken mitzuteilen, weil mir klargeworden ist, dass dies das bedeutsamste Geschenk ist.« Nicht nur für ihn, sondern auch für mich. Er begann dann darüber zu sprechen, wie wichtig es sei, dass die Menschen sich einander wirklich mitteilen. Er erlebe täglich viele Menschen, die nichts als Lügen äußerten. Sein Tonfall brachte erst Abscheu, dann Ärger zum Ausdruck. Bitter sprach er über die Menschen in der Schule und in unserer Kirche. Er äußerte sich äußerst abfällig über »diese verdammten Sonntagschristen«. Dabei ging er meiner Meinung nach zu weit. Es fiel mir sehr schwer zuzuhören. Ich hatte meinen Impuls niederzukämpfen, diese Menschen zu verteidigen und ihn aufzufordern, doch etwas freundlicher über sie zu sprechen. Da ich ihn nicht unterbrach, fuhr er fort. Nun waren es nicht mehr nur die Menschen …, auch die Lehre der Kirche war »dumm«. Dann waren die Menschen grausam. »Woher beziehen sie all ihre Antworten auf die Frage, wie man ein schönes, langes Leben führen soll?«, stieß er ärgerlich hervor. Allmählich ging mir sein Verhalten auf die Nerven.
Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals fluchen gehört zu haben. Das tat er jetzt. »Sie glauben, dass sie so gottverdammt schlau sind«, und »Woher, zur Hölle, wollen sie wissen, wie es ist, wenn man anders ist?«
    Ich hatte Angst, ich könnte es nicht ertragen, ihm noch länger zuzuhören. Ich hatte einen Kloß im Hals, und als ich merkte, wie fest meine Hand den Küchenstuhl umklammerte, wurde mir bewusst, dass ich nur den einen Wunsch hatte: fortzulaufen. Immer wieder sagte ich mir selbst: »Halt dich aus diesem Problem heraus. Lass ihm seine Gefühle, dann kannst du sie dir anhören.«
    Schließlich brach er zusammen und schluchzte. Er schlug so heftig auf den Tisch, dass ich Angst hatte, er würde sich wehtun. Er schrie: »Ich habe Angst zu sterben. Ich möchte nicht sterben.«
    Nach einigen Augenblicken, die mir wie Stunden vorkamen und in denen ich mich verzweifelt fragte, was ich tun könnte, hob er seinen Kopf hoch und sah mir in die Augen: »Ich musste das mal sagen, Mama«, sagte er. Wir umarmten einander und weinten zusammen. Nachdem wir dann einen Moment schweigend dagesessen hatten, sah er etwas verlegen auf und sagte: »Na, dann mal los, bringen wir hier das Geschirr hinter uns.«
    Wenn ich den Dialog gesteuert hätte, hätte ich ihm wahrscheinlich vorgeschlagen, dass ich in sein Zimmer kommen und ihm gute Nacht sagen würde. Mark wollte nichts dergleichen. Es war Mitternacht, als wir das Geschirr abwuschen und über unsere Gefühle und Ängste sprachen …
    Inzwischen weiß ich, es genügt nicht, dass Mark an diesem Abend einmal über seine Gefühle gesprochen hat. Die Tür muss für neue Gespräche offen bleiben. Jetzt, da Mark entdeckt hat, dass ich ihm zuhöre, spricht er häufiger mit mir und auch mit anderen darüber. Dabei stellte er fest, dass er mit sich und anderen besser klarkommt. Er versucht ehrlich herauszufinden, wie seine Gefühle aussehen, und sich darüber klarzuwerden, was er wirklich glaubt und schätzt – und handelt dementsprechend.
    Mit 16 ist Mark sehr gut in der Lage, seine Probleme selbst zu lösen. Manchmal versuche ich, sie ihm abzunehmen. Für solche Gelegenheiten hat er von sich aus sehr deutliche »Ich-Botschaften« entwickelt,
mit denen er mir zeigt, was ich da tue. Seine Krankheit ist dadurch natürlich nicht besser geworden, aber sie scheint uns jetzt nicht mehr so zu beherrschen. Eine chronische Krankheit zieht die ganze Familie in Mitleidenschaft. Oft fällt sie den gesunden Geschwistern mehr zur Last als dem Kind, das an der Krankheit leidet. Nicht lange nach Marks Geburtstag hatte Stan wieder Alpträume, unter denen er schon früher gelitten hatte. Wir hatten schon Fachleute zurate gezogen, aber immer wieder wachte er schreiend auf und konnte nicht wieder einschlafen. Über den Inhalt seiner Träume hat er nie gesprochen. Er sagte, er könne sich nicht

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