Familienkonferenz in der Praxis
doch wohl bloß mit unterschiedlichen Meinungen, nicht aber mit einer Situation zu tun hätten, in der sich entscheiden lasse, wer recht oder unrecht habe. Das konnten sie anfangs nur schwer begreifen. Immer wieder benutzte ich meine Beziehung zu Raymond als Beispiel. Ich wies darauf hin, in wie vielen Dingen wir unterschiedlicher Meinung seien. Wenn Raymond aber mit Gewalt versuchen würde sich durchzusetzen, würde ich ärgerlich und wir würden Streit bekommen. Sie kicherten, wenn sie sich solche Szenen vorstellten.
Diese Gespräche trugen jedoch dazu bei, dass die Jungen mit der Zeit einsahen, dass es im Leben nun einmal so ist, dass man über ein und dieselbe Sache unterschiedlicher Meinung sein kann. Das ist völlig in Ordnung, solange die anderen uns nicht ihre Meinung aufzuzwingen versuchen.
Wir sprachen darüber, und das war schon etwas. Das war einige Monate bevor das Problem endgültig gelöst wurde. Ich war gerade in der Küche mit dem Frühstück beschäftigt. Ich muss dazu sagen, dass ich morgens nicht gerade die beste Laune habe. Ich stolperte über irgendwelche Spielsachen von Felix, die hinter der Tür herumlagen. Brent kam gerade in die Küche und sagte mir, dass Felix sich oben anzöge.
»Geh hinauf und sag ihm, er soll sofort herunterkommen, oder ich schmeiß ihn und seine Spielsachen in den Mülleimer.« Brent antwortete in aller Gemütsruhe: »Du scheinst nicht gerade bester Laune zu sein.«
Ich überlegte mir noch, was ich mit Felix tun würde und wie schwer
ich es hätte, als Brent begann, Felix’ Spielsachen aufzuheben. Ich verbot ihm das und schrie ihn an, die Unordnung stamme von Felix, und er werde das auch hübsch allein aufheben. Brent sah mich an und sagte nur: »Mir macht es nichts aus, meinem Bruder zu helfen. Es scheint mir, als hättest du Felix heute morgen auf dem Kieker. Ich werde ihm helfen. War es nicht das, worüber wir gesprochen haben?«
Wie besonnen diese Äußerung war! Von diesem Zeitpunkt an bemerkte ich, dass sie sich Mühe gaben – nicht immer und nicht um jeden Preis –, Rücksicht aufeinander zu nehmen.
Als Familie haben wir uns im Laufe dieses Jahres wirklich weiterentwickelt. Die wenigen Situationen, die ich hier beschrieben habe, geben nur einen schwachen Eindruck von all den Kriegs- und Friedenszeiten wieder, die wir erleben. Ich habe als Mutter daran gezweifelt, ob ich für diese Rolle überhaupt die nötigen Voraussetzungen mitbringe. Ich litt darunter, mich immer wieder mit denselben Problemen herumschlagen zu müssen, und war frustriert, dass ich dabei keine merklichen Fortschritte erzielte. Darunter litt mein Selbstwertgefühl. Mein Toleranzniveau nahm ab, als Brent und Felix älter wurden.
Wenn ich zusammenfassen soll, wie sich die ›Familienkonferenz‹ auf uns ausgewirkt hat, muss ich auf einige Punkte besonders hinweisen.
Als ich versuchte, die neu erworbenen Techniken in der Familie anzuwenden, äußerte Raymond seine Sorge über das, was er dabei wahrnahm. Beispielsweise bat Felix mich, ihm seine Schuhe zuzubinden. Felix ist zwar sehr gut in der Lage, sich seine Schuhe selbst zuzubinden. Aber oft kam ich seiner Bitte gern und bereitwillig nach. Mir machte das nichts aus. Ich litt aber unter der Anklage Raymonds, ich sei zu nachgiebig. Das war ich zwar nicht, aber er zog diesen Schluss.
Nach einer gewissen Zeit merkte Raymond, dass Felix’ Toleranzniveau mir gegenüber in dem Maße zunahm, in dem meines gegenüber dem Jungen zunahm. Felix begann, auf viele meiner Bedürfnisse positiv zu reagieren. Er begann damit, seinen Mantel aufzuhängen, seine Brotdose fortzuräumen und mir seine Hilfe in der Küche anzubieten. Gleichzeitig bemerkte Raymond, dass auch wir selbst einen
anderen Ton anschlugen, wenn wir Meinungsverschiedenheiten hatten. Das war ein Ergebnis der Techniken, die ich anwendete. So las er Gordons Buch. Nachdem er mich mit Fragen wie »Das mag in Ordnung sein, was ist aber, wenn …« überschüttet hatte, kam er zu dem Schluss, dass es wohl das Beste sein würde, wenn er selbst an einem Kurs teilnähme. Das tat er. Nun verwenden in unserer Familie Vater und Mutter die gleichen Kommunikationstechniken.
Das Klima in unserer Familie wurde zusehends besser. In dem Maße, in dem ich lernte, mich selbst mehr zu akzeptieren, begannen sich auch mein Mann und unsere beiden Jungen zu entwickeln. Über viele Jahre hatten Raymond und ich angenommen, wir hätten als Eltern das Recht, Respekt von unseren Kindern zu verlangen. Ihr Vertrauen
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