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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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Krankheit übersehen, die sie diesmal tatsächlich habe.
    Innerhalb von wenigen Wochen hatte Christine deshalb sämtliche Krankenhäuser im weiten Umkreis aufgesucht, was ihre finanziellen Mittel zu erschöpfen drohte. Bei jeder Fahrt kam eine höhere Taxirechnung auf sie zu.
    Auch früher hatte Christine schon ähnliche Beschwerden gehabt. Beispielsweise bei einem längeren Aufenthalt im Ausland, wo sie ein Jahr studiert hatte, glaubte sie, an einer seltenen Blutkrankheit zu leiden. Diese vermutete Krankheit führte dann zum vorzeitigen Abbruch ihres Studienaufenthaltes. Zu Hause war dann nach kurzer Zeit die Angst verschwunden.
    In der jetzigen Situation spielte der Freund von Christine eine große Rolle. Er war deutlich jünger als sie, ihr in mancherlei Hinsicht unterlegen, stand jedoch emotional unerschütterlich zu ihr, gab ihr viel Sicherheit, nicht zuletzt durch die feste Verwurzelung in seiner eigenen Herkunftsfamilie. Letzteres hatte sie selbst nie erlebt. Für Christine war die Beziehung deshalb gleichzeitig sehr anziehend und bedrohlich. Sie suchte und erhielt die Nähe, nach der sie sich sehnte. Im selben Moment aber wurde ihre empfindlichste Stelle berührt. Es war die Angst, sich nicht mehr trennen zu können, falls sie sich einmal auf die Beziehung einlassen würde. Zwischen der Sehnsucht nach der Nähe und der Furcht, dann nicht mehr loszukommen und abhängig zu werden, schwankte sie hin und her und empfand sich in ihrer Existenz
erschüttert. Auf dem Boden dieser Gefühle verstand ich ihre Angst, körperlich krank zu werden. Sie entsprach dem Wunsch nach Pflege und Zuwendung und symbolisierte auch die Tiefe der Bedrohung.
    Als ich mit Christine nun das Szenario einer erfolgreichen Behandlung entwarf, einer Zeit also ohne gesundheitliche Befürchtungen, reagierte sie zuerst wie erwartet: »Dann wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.« Erst durch genaue Fragen nach den Folgen bezüglich ihrer Beziehungen wurde deutlich, dass sich eine Beschwerdefreiheit auch auf die gegenwärtige Beziehung auswirken würde. Christine wurde plötzlich klar, dass sie sich die Beziehung zum Freund nur vorstellen konnte, solange sie sich als »krank« und »pflegebedürftig« empfand. Andernfalls würde sie sich von »einengenden« Beziehungen befreien. Sie äu ßerte überrascht: »Ich glaube, ich würde mich von meinem Freund trennen, wenn ich mich gesund fühlen würde.«
    Dieses Thema, die Verbindung von Krankheit und gegenwärtiger Beziehung, spielte in der weiteren Therapie eine wesentliche Rolle.
     
    In anderen Fällen kann man denselben Zusammenhang eher durch die gegenteilige Fragestellung erhellen:
    »Es mag etwas verrückt klingen, aber stellen Sie sich einmal vor, Sie könnten Ihre Beschwerden bewusst herbeiführen. Was müssten Sie dazu unternehmen?«
    Diese Frage ist eine meiner Lieblingsfragen im Erstinterview geworden. Viele Patienten können nach anfänglicher Überraschung aufzählen, wie sie die Beschwerden erzeugen oder verschlimmern können. Wenn der Patient sich auf die Fragestellung einlässt, gerät er in ein double bind (siehe Seite 35 f.), da er nun bewusst beschreibt, was sich unbewusst vollzieht. Es ist eine Variante der »Sei-spontan-Paradoxie«. Falls sich also das Symptom in der vorher beschriebenen Weise erneut vollzieht, wird es dieses Mal ungleich schwerer fallen, es sich »spontan« entwickeln zu lassen.
    Ein Beispiel: »Um richtig depressiv zu sein, darf ich morgens nicht aufstehen, muss an mein verpfuschtes Leben denken, an die Menge der unerledigten Arbeit, an den angefangenen
Brief von gestern Abend, den ich wahrscheinlich heute schon wieder nicht beenden werde, vielleicht noch an die vielen Dinge, die ich in meinem Leben angefangen habe, ohne sie zu beenden. Wenn dann noch meine Frau mir vorwirft, ich hänge schon wieder so herum, und ich wehre mich nicht, dann geht es mir so richtig elend.«
    Wenn dieser Patient – das Beispiel ist vereinfacht – sich dann am nächsten Tag genauso verhält, wird er in den beschriebenen double bind oder in eine Beziehungsfalle 8 verstrickt. Der »unschuldige« Ablauf der Symptomatik wird noch erschwert, falls mit dem Patienten schon denkbare Alternativen erwogen wurden: »Wie werden Sie wohl auf die Vorwürfe Ihrer Frau reagieren, wenn Sie sich nicht mehr depressiv zeigen?«
    Die Antworten auf die Fragen werden dem Patienten unwillkürlich in der betreffenden Situation einfallen. Auch wenn sie nicht durchgeführt werden sollten, erzeugen

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