Familientherapie ohne Familie
sie Distanz zum Symptom und führen damit zu einem Schritt vorwärts.
Zu Beginn einer Behandlung kann es günstig sein, die Aufmerksamkeit auf die bisherigen Versuche des Patienten zu richten, die er unternommen hat, sein Problem mit oder ohne fachkundige Hilfe zu lösen. Diese überraschend einfache Empfehlung scheint mir angebracht, da Therapeuten leider meist nicht bedenken, dass Patienten die offenkundigen und nahe liegenden Lösungsversuche oft schon erfolglos versucht haben. Das also, was sich dem Therapeuten als Erstes in den Sinn drängt, kann er im Allgemeinen getrost vergessen! Es hilft wenig, dem Patienten dasselbe noch einmal ausdrücklich vorzuschlagen. Wenn es so einfach wäre, dann säße er ja nicht bei ihm!
Auch wenn es vielfach schwer zu erkennen ist: Jeder Patient, der in Behandlung kommt, befindet sich in einem für ihn unlösbaren Dilemma, auch wenn die Lösung für Außenstehende so offenkundig erscheint.
Besonders eindringlich zeigt sich das bei Partnerkonflikten, bei denen es um eine lang hinausgezogene Trennung
geht. Der eine Partner mag über den anderen in unendlichen Hasstiraden herziehen, und die schaurigen Taten des nicht anwesenden Partners lassen nur den logischen Schluss zu: »Trenne dich, so schnell du kannst!« Genau das wird der Klagende jedoch nicht können, da ihm die andere, die loyale Seite zum Partner oder die verborgenen Ängste vor der neuen Freiheit unbewusst sind. Hilfreicher als die oft schon gehörte Empfehlung, sich zu trennen, mag es daher sein, etwa folgendermaßen zu fragen:
»Sie haben mir eine ganze Reihe von problematischen Dingen aus Ihrer Beziehung berichtet. Ich sehe, dass Sie bei der Lage der Dinge möglicherweise auch schon an eine Trennung gedacht haben. Auf der anderen Seite muss Ihr Partner auch noch andere Eigenschaften haben, sonst könnte ich mir nicht erklären, warum Sie beide so lange weiterhin zusammen sind.«
Damit lässt sich die Rückseite der Medaille betrachten, die Seite der Wirklichkeit, die genauso vorhanden ist und auf den ersten Blick verborgen bleibt.
Zu diesen »Wahrheiten der Rückseite« gehört noch eine weitere: Im Laufe eines psychotherapeutischen Erstinterviews besteht eine besondere Gefahr, den Patienten mit seinen Beschwerden zu identifizieren. Ähnlich wie in einer chirurgischen Abteilung, in der in Zimmer 12 nicht Frau Helga Müller, sondern »die vereiterte Galle« liegt, gerät der Psychotherapeut in Versuchung, die Beschwerden des Patienten als die Totalität von dessen Lebenswirklichkeit anzusehen. Frau Helga Müller besteht also im einen Fall nur aus dem rechten Oberbauch, im anderen Fall im Wesentlichen aus »Depressivität«. Die anderen Seiten dieser Frau, ihr Leben als Mutter, Ehefrau, Kommunalpolitikerin, Halbwaise, Mitglied des Turnvereins und ehemalige Patientin eines Orthopäden sind aus unserer Wahrnehmung ausgeschlossen.
Im Falle der Depressivität erzeugt die – ihm unbewusste – Annahme des Therapeuten, er habe es mit einer durch und durch depressiven Patientin zu tun – für ihn eine eigene Realität,
die auf ihn eigentümlich zurückwirkt. Wenn der Therapeut die Epistemologie des Patienten übernimmt (»Diese Lage ist wirklich hoffnungslos, da kann ich mir auch nicht vorstellen, wie es weitergehen kann«), dann wird sich die lähmende Hoffnungslosigkeit des Patienten auf ihn übertragen, seine Stimme wird leiser, er wird sich immer elender fühlen, in seinem Sessel langsam tiefer rutschen, bis zuletzt Therapeut und Patient übereinstimmen: Hier ist kein schnelles Entkommen.
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht das einfühlende Verstehen soll hier infrage gestellt werden, es zählt zur Notwendigkeit jeder Psychotherapie. Die Gefahr sehe ich in der parallelen Auffassung (Konstruktion) der Wirklichkeit durch Therapeut und Patient. Dann nämlich sind sie beide in der gleichen Sackgasse gefangen.
Durch das frühzeitige Herausarbeiten der anderen Seiten des Patienten, seiner aktiven, durchsetzungsfähigen, lebendigen Anteile, wird dieser Gefahr entgegengewirkt. Und zwar nicht im Sinne eines optimistischen »Kopf hoch, mein Lieber, alles halb so schlimm«, sondern um der Totalität des Patienten tatsächlich gerecht zu werden und nicht den Depressiven als nur depressiv anzusehen.
Entsprechend Steve de Shazer kann man also von Anfang an auf die erwähnte Ressourcen-Seite des Patienten eingehen.
»Sie sagten, Sie würden sich lange Zeit am Tag depressiv fühlen. Wenn Sie es in Stunden oder Minuten
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