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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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das Vollbild einer Depression deutlich wurde: Bauchschmerzen, Verstopfung, Sinnlosigkeitsgefühle, morgendliches
Tief, verbunden mit der Empfindung, der Tag läge »wie ein Berg vor ihr«, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Die Beschwerden hatten begonnen, nachdem der 35-jährige, einzige Sohn auf tragische Weise an einer Leukämie verstorben war. Er ließ eine junge Frau und einen vier Jahre alten Sohn zurück. In den letzten drei Jahren hatte die Patientin den Tod nicht überwinden können. Alle Hilfsangebote von Freunden oder der Schwiegertochter hatte sie resigniert zurückgewiesen.
    Sie verbrachte deshalb die meiste Zeit zu Hause, wo sie besonders morgens in Gedanken beim Verstorbenen war. So verstrich der Morgen unendlich langsam, ohne dass sie sich aufraffen konnte, etwas zu unternehmen. Nachmittags wurde es meistens besser. Da ging sie einkaufen oder besuchte Bekannte.
    Nachdem die Beschwerden in etwa deutlich geworden waren, gab der Therapeut folgende Intervention:
    »Sie haben einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Sie haben Ihren einzigen Sohn verloren und Sie haben zusätzlich bereits Ihren Mann verloren. Es ist deshalb nur zu verständlich, wenn Sie trauern. So verstehe ich Ihre Beschwerden als den Ausdruck eines schweren Schmerzes um den Verlust Ihrer geliebten Angehörigen. Gerade wenn so wichtige Personen sterben, halten die Weiterlebenden sie in ihrem Innern am Leben, indem sie sich beständig mit ihnen beschäftigen und sich nur langsam neuen Dingen zuwenden.
    Sie kommen nun zu mir, weil Sie unter verschiedenen Beschwerden leiden, die mit diesem Trauern und Lebendighalten der Erinnerung an die Toten zusammenhängen. Ich kann verstehen, wenn Sie sich von den Beschwerden befreien möchten, aber ich glaube nicht, dass Sie die ernsten Gedanken aufgeben können oder sollen. Die Trauer und die Erinnerung wird Sie sicherlich noch lange begleiten. Solch ein Ereignis kann man nicht vergessen, es kann nur langsam etwas weniger schmerzhaft werden. Ich möchte Ihnen aber dennoch eine Empfehlung geben. Zurzeit überfallen Sie die traurigen Gedanken fast den ganzen Tag, besonders vormittags. Sie kämpfen zwar dagegen an, aber es scheint Ihnen noch nicht zu gelingen, sie zu beherrschen.
    Mein Rat ist folgender: Räumen Sie sich jeden Morgen zwei Stunden Zeit ein, die Sie vollständig den Verstorbenen, besonders dem Sohn widmen. Nehmen Sie sich eine feste Zeit, in der Sie nichts anderes machen, als an den Sohn zu denken, wie die
Zeit mit ihm war, was in Zukunft noch hätte werden können und die anderen Dinge, die Sie gut kennen. Machen Sie in dieser Zeit keine Hausarbeit. Gehen Sie nicht an die Haustür. Reservieren Sie die zwei Stunden Besinnung für das eine Thema. Falls Ihnen andere Gedanken kommen sollten, verschieben Sie diese auf später. Umgekehrt sollten Sie die besinnlichen und ernsten Gedanken, die Ihnen während des Tages einfallen, sich für die morgendliche Phase der Einkehr aufsparen. Dort ist jetzt die Zeit und die Ruhe, darüber nachzudenken.«
     
    Die Intervention folgt dem Muster: Erst etwas herbeiführen, um es dann zu kontrollieren. Im Fallbeispiel oben ist leicht ersichtlich, dass nach einiger Zeit die Patientin Mühe haben wird, zwei volle Stunden zu trauern. Dann wird der Therapeut, wie auch in den Beispielen zuvor, nur langsam die Zeit reduzieren und zumindest – auch bei weitgehendem Wohlbefinden – eine kurze »Meditationsphase« am Morgen belassen.
    Bei allen Varianten der Verschreibung sollte der Therapeut darauf achten, das entsprechende Symptom früher oder häufiger zu verschreiben, als es spontan auftritt. So gelingt es beispielsweise manchmal, einen lästigen Schluckauf zu unterbinden, indem man jemanden bittet, aktiv den Schluckauf zu demonstrieren, kurz bevor er spontan auftreten würde.
    Eine andere derartige Erfahrung berichtete ein Ehepaar: Sie hätten sich in vielen Jahren des gemeinsamen Lebens oft und gern gestritten. Ihnen sei nur aufgefallen, dass die unerfreulichen Streitigkeiten sich meist abends nach 22 Uhr abgespielt hätten. Man habe sich daher auf die Spielregel geeinigt, spätestens bis 22 Uhr einen Streit zu beenden oder aber auf den nächsten Tag zu verschieben. Durch diese einfache Regel würden sie seitdem die zermürbenden Diskussionen bis drei Uhr morgens vermeiden. Am nächsten Morgen ließen sich die Probleme meist mit wenigen Worten lösen.
    Derartige Erfahrungen, die Patienten berichten, lassen sich vom Therapeuten immer wieder bei passender

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