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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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gleichen sie die »Konten« auf andere Weise aus. Nach einer weiteren Nacht, in der sie umsonst auf den Sohn gewartet haben, beschließt die Mutter, am nächsten Morgen zu früher Stunde ausgiebig den Flur vor dem Zimmer des Sohnes mit dem Staubsauger zu bearbeiten. Dem Vater fällt wieder ein, dass er ja schon seit Monaten einige Dübel anbringen wollte – im Zimmer nebenan. Auch hatte er seiner Frau versprochen, er würde ihr helfen, einen schweren Teppich zu
klopfen, wozu sich eine Stelle im Garten unterhalb des Zimmers des Sohnes besonders eignet. Falls der Sohn sich über den gestörten Schlaf beschweren sollte, entschuldigen sich die Eltern für ihre »Achtlosigkeit«. Sie hätten einfach vergessen, dass er noch schlafe. Falls der Sohn erneut so spät nach Hause kommt, spielt sich dann Vergleichbares ab. Die Eltern vermeiden jedoch, die Aktion als Strafe darzustellen. Damit geben sie keine Angriffsfläche für zermürbende Streitereien, da sie keinen offenen Widerstand gegen die Beschwerden des Sohnes leisten. Bald wird sich der Sohn überlegen, wie man sich bezüglich des Ausgehens einigen könnte.
    Die Intervention verlangt Fingerspitzengefühl, um sie nicht zu einer reinen Machtstrategie und heimlichen Koalition zwischen Therapeut und Eltern werden zu lassen. Doch kann es auch einen eingefahrenen Konflikt entschärfen, da die Eltern zum ersten Mal lustvoll »Rache« nehmen dürfen, ohne es als Bestrafung deklarieren zu müssen und dadurch neuen Widerstand hervorzurufen. Erfinder dieser Intervention waren im Übrigen nicht Psychotherapeuten. Im Alltag kann man oft Phänomene beobachten, wo »versehentlich« Dinge geschehen, die – bewusst ausgeführt – eine Ungeheuerlichkeit wären. So fallen »versehentlich« Tassen herunter, »versehentlich« verspricht man sich, aus »Vergesslichkeit« denkt man nicht an Verabredungen oder Geburtstage, aus »Unachtsamkeit« übersieht man jemanden. Bei diesen Gelegenheiten scheint keine bewusste Aggressivität vorhanden zu sein. Der Betroffene kann sich deswegen auch nur schlecht wehren, obwohl er real brüskiert wurde. Manche Menschen – besonders depressiv strukturierte – sind wahre Meister solcher Kommunikation. Sie benutzen die Macht der Machtlosigkeit und die Stärke der Schwäche zur Durchsetzung der eigenen Wünsche.
Fehlerverschreibung
    Lernprobleme und Examensängste haben häufig Menschen, die entweder zu faul oder zu fleißig sind. Die Faulen kommen selten zum Therapeuten, es sei denn, sie brauchen ein Attest.
Häufiger sieht man die Fleißigen. Gemeint sind die Perfektionisten, die aus angespannter Überängstlichkeit ihr Lernpensum zu weit spannen und durch eine enorme Anspruchshaltung unfähig werden, Neues aufzunehmen. Sie geraten in das »Sei-spontan«-Dilemma, da Lernen ein gewisses Maß von Freiwilligkeit beinhaltet und deswegen nur schlecht erzwungen werden kann. 38
     
    Eva, eine intelligente Studentin der Geografie, begab sich in gruppenpsychotherapeutische Behandlung wegen einer Phobie. Nach zwei erfolgreichen Semestern, in denen sie sich sehr wohlgefühlt hatte, überfiel sie plötzlich in einem vollen Hörsaal eine panische, ihr unerklärliche Angst. Sie verließ den Hörsaal sofort und beruhigte sich erst einige Stunden später. Als sie eine Woche später beklommen wieder in dieselbe Vorlesung ging, geschah das Unvermeidliche: Kaum hatte der Dozent eine Weile gesprochen – es war absolute Ruhe unter den Studenten eingekehrt -, stieg die Angst erneut in ihr hoch. Sie musste sich mühsam durch die Reihen hindurchdrängen, alle Augen waren auf sie gerichtet, bis sie den rettenden Ausgang erreichte. Von da ab konnte sie, trotz mehrerer Versuche, keine Vorlesung mehr besuchen. Alle Hilfen waren umsonst gewesen. Sie setzte daher für fast ein Jahr ihr Studium aus und begab sich in Psychotherapie.
    Wie sich in der Therapie herausstellte, waren die Ursachen der Angst vielschichtiger Art. Sie sollen hier nicht alle dargestellt werden. Einen wesentlichen Anteil hatte die eigene Anspruchshaltung der Patientin, da sie aus bestimmten biografischen Gründen stets die Beste sein musste. In der Schulzeit war ihr dies auch noch gelungen. Nun aber, im Studium, sah sie sich zahllosen, ebenfalls zielstrebigen und intelligenten Konkurrenten gegenübergestellt. Für die kommenden Prüfungen befürchtete sie nun die Erniedrigung, schlechter zu sein als die anderen. Da sie bisher immer nur die besten Zensuren hatte, fehlte ihr plötzlich das Gefühl, unterscheiden

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