Fandorin
was es sonst noch an Qualitäten gibt, die einen echten Gentleman ausmachen.
Eine sanfte Frauenstimme antwortete auf sein Klopfen:
»
Come in! Entrez!
«
Fandorin reichte dem Türhüter seine Mütze und trat ein.
Er kam in ein großes, üppig möbliertes Kabinett, dessen Mittelpunkt ein riesiger Mahagonischreibtisch war. Dahinter saß eine grauhaarige Dame, die einen angenehmen, ja, ausgesprochen gemütlichen Eindruck machte. Die blauen Augen hinter dem goldenen Kneifer sprühten geradezu vor Freundlichkeit und Lebendigkeit. Das nicht sehr anmutige Gesicht mit der entenschnäbligen Nase und dem großen, lächelnden Mund gefiel Fandorin auf Anhieb.
Er stellte sich auf englisch vor, wobei er mit seinem Anliegen noch hinter dem Berg hielt.
»Sie haben eine exzellente Aussprache, Sir«, lobte ihn Lady Aster in selbiger Sprache, wobei sie jede Silbe sorgfältig ausformte. »Ich hoffe, unser grimmiger Timothy … ich meine, Timofej hat Sie nicht allzusehr erschreckt? Ehrlich gesagt, habe sogar ich zuweilen Angst vor ihm, doch hier in der Direktion tauchen des öfteren irgendwelche Amtspersonen auf, und dann ist Timothy unersetzlich, besser als jeder englische Butler. Nehmen Sie doch Platz, junger Mann. Am besten dort, in dem Sessel, da haben Sie es am bequemsten. Sie arbeiten also bei der Kriminalpolizei? Das muß ja ein sehr interessanter Beruf sein. Und was tut Ihr Vater, wenn ich fragen darf?«
»Er ist tot.«
»Oh, das tut mir leid, Sir. Und die Frau Mutter?«
»Die auch«, brummte Fandorin, dem dieser Einstieg ins Gespräch nicht behagte.
»Ach. Sie armer Junge. Ich weiß, wie einsam Sie sind. Seit nunmehr vierzig Jahren helfe ich solch armen Jungen, die Einsamkeit hinter sich zu lassen und ihren Weg zu finden.«
»Ihren Weg, Mylady?« Fandorin verstand nicht recht, was gemeint war.
»Aber ja!« ereiferte sich Lady Aster, sie schien gerade ihr Steckenpferd zu reiten. »Seinen Weg zu finden ist das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß jeder Mensch seine einzigartigen Talente hat, in jedem steckt eine göttliche Gabe. Die Tragödie der Menschheit besteht darin, daß wir nicht imstande und wohl nicht einmal sonderlich interessiert daran sind, diese Gabe im Kinde aufzuspüren und zu hegen. Das Genie gilt uns als die Ausnahme und als Wunder, dabei ist das Genie nichts anderes als ein Mensch, der Glück gehabt hat: Das Schicksal wollte es, daß die Lebensumstände diesen Menschen zur richtigen Wahl seines Weges angehalten haben. Mozart ist das klassische Beispiel dafür. Er ist in der Familie eines Musikers geboren, also in einer Atmosphäre aufgewachsen, die die ihm in die Wiege gelegten Talente auf ideale Weise genährt hat. Nun stellen Sie sich einmal vor, Sir, Wolfgang Amadeus wäre in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Bestimmt wäre ein garstiger Kuhhirt aus ihm geworden, bestenfalls einer, der seine Kühe mit zauberhaften Schalmeientönen beglückt. In der Familie eines tumben Offiziers hätte er es wiederum am ehesten zum linkischen Feldwebel gebracht, mit einer Vorliebe für Militärmärsche. Oh, glauben Sie mir, junger Mann: Jedes, wirklich ausnahmslos jedes Kind birgt in sich einen Schatz – aber der will erst einmal gehoben sein! Es gibt einen sehr netten nordamerikanischen Schriftsteller mit Namen Mark Twain. Ich habe ihm einmal die Idee zu einer Erzählung geliefert, in der die Menschen nicht nach ihren tatsächlichen Leistungen angesehen werden, sondern nach ebenjenem Potential, jener Begabung, die die Natur in ihnen angelegt hat. Und es zeigt sich, der größte Heerführer aller Zeiten ist irgendein namenloser Schneider, der niemals bei der Armee war, und der größte Maler hatte nie einen Pinselin der Hand, weil er nämlich sein Lebtag als Schuster gearbeitet hat. Mein Erziehungssystem zielt darauf ab, daß jeder große Heerführer unbedingt eine Militärkarriere ansteuern und jeder große Maler beizeiten Zugang zu den Farben erhalten muß. Meine Pädagogen erforschen behutsam und geduldig jede seelische Regung ihrer Zöglinge, suchen darin nach dem göttlichen Funken, und in neun von zehn Fällen entdecken sie ihn!«
»Aha, das heißt, er steckt doch nicht in jedem!« sagte Fandorin und hob triumphierend den Zeigefinger.
»Doch, mein Junge, absolut in jedem, nur leider sind wir Pädagogen noch nicht geschickt genug. Oder aber in dem Kind schlummert ein Talent, für das die Welt von heute leider keine Verwendung hat. Vielleicht wäre dieser Mensch
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