Fandorin
wie geschaffen für die Urgesellschaft, oder sein Genie wird erst in der fernen Zukunft gebraucht – auf einem Gebiet, von dem wir einstweilen noch keine Vorstellung haben.«
»Gut, was die Zukunft angeht, kann es sein, das wage ich nicht zu beurteilen«, erwiderte Fandorin, den das Thema wider Willen gepackt hatte. »Aber was Sie über die Urgesellschaft sagen, verstehe ich nicht ganz. An was für Talente denken Sie dabei?«
»Das weiß ich doch nicht, mein Junge!« antwortete Lady Aster mit entwaffnendem Lächeln. »Meinetwegen die Gabe, mit Bestimmtheit zu erkennen, wo unter der Erde sich Wasser befindet. Oder die, ein wildes Tier im Wald zu wittern. Vielleicht auch die Fähigkeit, genießbare von ungenießbaren Wurzeln zu unterscheiden. Ich weiß nur eins: In damaligen Zeiten galten solche Menschen als die großen Genies, während Mr. Darwin oder Herr Schopenhauer, hätten sie damals gelebt, von ihren Stämmen für die letzten Tölpel gehalten worden wären. Nebenbei bemerkt, verfügen auch diejenigenKinder, die heute als geistig minderbemittelt angesehen werden, über Begabungen. Freilich keine von rationaler Art, darum aber nicht minder kostbare. Zu Hause in Sheffield habe ich ein spezielles Asternat für solche Kinder, mit denen die herkömmliche Pädagogik nichts zu tun haben will. Jesus! Welche Wunder an Genialität bei diesen Jungen zutage treten! Es gibt da ein Kind, das mit dreizehn noch kaum richtig sprechen kann, aber durch Handauflegen jede Migräne zu heilen versteht. Ein anderes, vollkommen stumm, kann über viereinhalb Minuten den Atem anhalten. Ein drittes heizt allein mit seinem Blick ein Glas Wasser auf, können Sie sich das vorstellen?«
»Unglaublich! Aber wieso eigentlich immer nur Jungen? Was ist mit den Mädchen?«
Lady Aster seufzte und hob die Hände.
»Sie haben recht, mein Freund. Man müßte natürlich auch mit Mädchen arbeiten. Leider hat mir die Erfahrung gezeigt, daß die heutige Gesellschaft moralisch nicht bereit ist, die der weiblichen Natur innewohnenden Talente in ihrer oftmals sehr besonderen Beschaffenheit auf gebührende Weise anzunehmen. Wir leben in einer Epoche der Männer, das muß man berücksichtigen. In einer Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben, stößt die begabte, außergewöhnliche Frau auf Mißtrauen und Feindseligkeit. Und ich möchte nicht, daß meine Schützlinge in ihr Unglück laufen.«
»Aber wie ist Ihr System denn aufgebaut? Wie zum Beispiel werden die Kinder, na, sagen wir, sortiert?« fragte Fandorin mit lebhafter Neugier.
»Ach, interessiert Sie das?« freute sich die Baronesse. »Dann gehen wir am besten ins Schulhaus hinüber, da sehen Sie es mit eigenen Augen.«
Mit einer für ihr Alter erstaunlichen Behendigkeit war sieaufgesprungen – bereit zu einer Führung durch das Haus, wie es schien.
Fandorin verbeugte sich, und Mylady geleitete ihren jungen Gast zunächst wieder den Korridor entlang und durch die lange Galerie zum Haupthaus.
Unterwegs erzählte sie: »Das hiesige Institut ist ganz neu, erst vor drei Monaten eröffnet, und wir stehen mit unserer Arbeit noch am Anfang. Meine Leute haben die Jungen aus den Waisenhäusern und manchmal direkt von der Straße geholt, einhundertzwanzig insgesamt, zwischen vier und zwölf Jahren. Bei noch älteren Kindern läßt sich kaum mehr etwas ausrichten, die Persönlichkeit ist schon fertig geformt. Zunächst hat man die Jungen in Altersklassen aufgeteilt, jede hat ihren eigenen Lehrer, der sich mit dem jeweiligen Alter besonders gut auskennt. Ihm obliegt es, sich die Kinder genau anzuschauen und ihnen nach und nach bestimmte einfache Aufgaben zu stellen. Diese Aufgaben sind spielerischer Art, doch läßt sich mit ihrer Hilfe gut erkennen, welche grundsätzlichen Anlagen vorhanden sind. In der Anfangsphase ist erst einmal herauszufinden, wo sich bei jedem Kind die Begabungen konzentrieren – im Körper, im Kopf oder in der Intuition. Anschließend werden die Kinder schon nicht mehr nach dem Alter, sondern nach Profilen sortiert: Rationalisten, Künstler, Handwerker, Führer, Sportler und so weiter. Allmählich engt sich das Profil immer weiter ein, so daß die älteren Jungen nicht selten individuell ausgebildet werden. Ich arbeite seit vierzig Jahren mit Kindern, und Sie können sich nicht vorstellen, was meine Schützlinge schon alles geleistet haben – auf den allerverschiedensten Gebieten.«
»Das ist grandios, Mylady!« Fandorin ließ seiner Begeisterung freien Lauf. »Aber wo
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