Fandorin
einem massiven dreistöckigen Gebäude, das auf den ersten Blick an eine Kaserne erinnerte – allerdings war es von einem Garten umgeben, und die Türen standen einladend offen. Dies war das neueröffnete sogenannte Asternat der englischen Baronesse. Ein Bediensteter im feschen blauen Rock mit silbernen Schnüren, der in einem gestreiften Büdchen saß, beeilte sich Auskunft zu geben, daß Mylady nicht hier, sondern im Seitenflügel residierten, Eingang um die Ecke rechts.
Fandorin sah eine Horde Knirpse in niedlichen blauen Uniformen aus den Türen springen, mit wildem Geschrei fegten sie über den Rasen und spielten Fangen. Der Bedienstete dachte nicht daran, die Rangen zur Ordnung zu rufen. Fandorins erstaunten Blick bemerkend, erklärte er: »Das ist nicht verboten. In der Pause dürfen sie Purzelbaum schlagen, soviel sie wollen, wenn nur das Inventar heil bleibt. So ist die Hausordnung.«
Anscheinend hatten die Waisenkinder hier ihre Freiheiten – anders als die Schüler der städtischen Gymnasien, zu denen sich unser Kollegienregistrator noch vor gar nicht langer Zeit zu zählen hatte. Fandorin freute sich für die armen Kinder und lief am Zaun entlang in die angegebene Richtung.
Um die Ecke lag ein schattiges Sträßchen, wie es hier im Viertel Chamowniki unzählige gab: mit staubigem Pflaster,Palisadenzäunen vor den verträumten kleinen Villen und ausladenden Pappeln, von denen schon bald der weiße Flaum fliegen würde. Der zweistöckige Seitenflügel, in dem Lady Aster ihr Domizil hatte, war mit dem Hauptgebäude über eine lange Galerie verbunden. Vor der Marmortafel mit der Aufschrift
Erstes Moskauer Asternat. Direktion
sonnte sich ein beeindruckender Türhüter mit geöltem und gestriegeltem Backenbart. So ein vornehmes Exemplar – weiß bestrumpft, mit Dreispitz und goldener Kokarde – hatte Fandorin noch nie zu Gesicht bekommen, nicht einmal vor der Residenz des Generalgouverneurs.
»Heute keine Sprechstunde!« Der Recke senkte den Arm wie einen Schlagbaum. »Bemühen Sie sich morgen wieder. In öffentlichen Angelegenheiten von zehn bis zwölf, in privaten von zwei bis vier.«
Nein, mit dem Stamm der Türhüter wollte sich für Erast Fandorin entschieden kein Einvernehmen herstellen. Entweder war sein Aufzug nicht solide genug, oder etwas stimmte an seiner Nase nicht.
»Kriminalpolizei. Zu Lady Aster, dringend!« Fandorin genoß bereits die Vorstellung, wie der goldbetreßte Zerberus im nächsten Moment in eine Verbeugung abknicken würde.
Aber der Zerberus dachte nicht daran.
»Zu Ihrer Erlaucht? Das weiß ich zu verhindern. Wenn es Ihnen beliebt, kann ich Sie bei Mr. Cunningham anmelden.«
»Ich brauche keinen Cunningham!« versetzte Fandorin gereizt. »Geh jetzt und melde mich bei der Baronesse, du Knallkopf, sonst übernachtest du heute bei mir auf dem Revier! Und sag ihr, die Kriminalpolizei steht vor der Tür, in einer dringenden Staatsangelegenheit!«
Der Türhüter maß den wütenden kleinen Beamten mit einem zutiefst skeptischen Blick, verschwand aber immerhinhinter der Tür. Den Gast ließ der dreiste Kerl draußen stehen.
Es verging geraume Zeit, Fandorin war nahe daran, ohne Aufforderung einzutreten, da erschien das martialische Bartgesicht wieder im Türspalt.
»Ihre Erlaucht empfangen, aber Russisch können Sie vergessen, Mr. Cunningham hat keine Muße zum Übersetzen, er hat Wichtigeres zu tun. Höchstens, Sie könnten sich französisch ausdrücken …«
Man hörte heraus, wie wenig der Türhüter an eine solche Möglichkeit glaubte.
»Genausogut englisch«, beschied Fandorin in kühlem Ton. »Wohin muß ich?«
»Ich gehe vor. Bitte zu folgen.«
Durch ein blitzsauberes, mit Möbelleinen tapeziertes Vestibül und einen sonnenüberfluteten Korridor mit einer Reihe hoher holländischer Fenster folgte Fandorin dem Recken zu einer goldverzierten weißen Tür.
Daß das Gespräch in Englisch geführt werden würde, brachte Fandorin nicht in Verlegenheit. Er war in der Obhut von Nanny Lizbeth (in strengen Augenblicken zuweilen: Mrs. Jason) aufgewachsen, einer waschechten englischen Amme. Sie war eine herzensgute, fürsorgliche, dabei streng auf Etikette bedachte alte Jungfer, die man – der Berufsehre wegen – keinesfalls mit »Miss«, nur mit »Mistress« ansprechen durfte. Lizbeth hatte ihren Schützling gelehrt, pünktlich aufzustehen – sommers um halb sieben und winters um halb acht –, beim Zähneputzen bis zweihundert zu zählen, sich nie ganz satt zu essen, und
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