Fandorin
was die Buchstaben NO bedeuten konnten.
»Nihilistische Organisation«, löste der Chef das Rätsel. »Es gibt in dieser Sache einige Anzeichen für eine Verschwörung, nur keine jüdische, sondern etwas viel Handfesteres. Deswegen bin ich im Grunde hierher abkommandiert worden. Wobei freilich auch Fürst Korschakow darum gebeten hat – wie Sie wissen, war Nikolai Achtyrzew der Sohn seiner verstorbenen Tochter. Aber es kann sein, daß die Sache viel komplizierter ist als angenommen. Unsere russischen Revolutionäre stehen vor der Spaltung. Der entschlossenste und ungeduldigste Teil dieser Robespierres ist es leid, den Mitbürger ewig nur aufzuklären – eine mühselige Angelegenheit, und langwierig, ein Leben reicht nicht aus dafür. Bomben, Stiletts und Revolver sind da doch viel spannender. Ich rechne in absehbarer Zeit mit einem Blutvergießen größeren Ausmaßes. Dagegen ist alles Bisherige nur ein Kinderspiel. Der Terror gegen die herrschende Klasse könnte die Massen ergreifen. Seit längerem bin ich in der Dritten Abteilung mit der Aufklärung besonders radikal und konspirativ vorgehender terroristischer Gruppen befaßt. Von meinem Patron, Lawrenti Arkadjewitsch Misinow, derder Dritten Abteilung wie auch der Gendarmerie vorsteht, bekam ich darum den Auftrag zu erkunden, was es mit dem in Moskau aufgetauchten Asasel auf sich hat. Denn der Dämon ist ein äußerst revolutionäres Symbol. Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel, mein lieber Fandorin!« Von Brillings bisheriger Spottlust war nichts mehr übrig, Erbitterung schwang in seiner Stimme. »Wenn man das Geschwür nicht schon im Keim extrahiert, zetteln uns diese Romantiker in dreißig Jahren oder früher eine
révolution
an, gegen die die französische Guillotine ein harmloses Späßchen ist. Die lassen Sie und mich gewiß nicht in Ruhe alt werden, denken Sie an meine Prophezeiung. Haben Sie die ›Dämonen‹ des Herrn Dostojewski gelesen? Das sollten Sie aber. Eine anschauliche Prognose.«
»Vier Versionen also?« fragte Erast Fandorin unschlüssig.
»Zu wenig? Haben wir etwas nicht bedacht? Reden Sie, reden Sie, bei der Arbeit gibt es für mich keine Rangordnungen«, ermunterte ihn der Chef. »Und haben Sie bloß keine Angst, sich lächerlich zu machen – das kommt Ihnen nur aufgrund Ihres Alters so vor. Besser, eine Dummheit zu sagen, als etwas Entscheidendes zu übersehen.«
Fandorin begann verlegen, legte jedoch bald an Inbrunst zu: »Mir scheint, Euer Hoch- … Chef, daß Sie Lady Aster zu früh ausgeklammert haben. Sie ist zwar eine äußerst ehrenwerte und angesehene Person, nur – es geht doch um ein Millionenerbe! Die Beshezkaja hat davon nichts, Graf Surow auch nicht und der Nihilistenklüngel höchstens insofern, daß es dem Gemeinwohl zugute kommt. Ich weiß nicht, was Lady Aster für eine Rolle spielt, vielleicht gar keine, aber der Ordnung halber müßte man … Es gibt doch dieses kriminalistische Grundprinzip:
Is fecit, cui prodest
– getan hat es der, dem es nützt.«
»Besten Dank für die Übersetzung«, sagte Brilling mit einer Verbeugung, was Fandorin erneut verlegen machte. »Die Anmerkung ist vollkommen korrekt, jedoch hat Achtyrzews Darstellung, wie Ihr Bericht sie wiedergibt, alle diesbezüglichen Unklarheiten beseitigt. Der Name der Baronesse Aster ist zufällig ins Spiel gekommen. Ich habe sie in die Liste der Verdächtigen nicht aufgenommen, um erstens kostbare Zeit zu sparen und weil ich zweitens das Glück hatte, dieser Dame hin und wieder zu begegnen, sie also ein wenig kenne.« Brilling zeigte ein freundliches Lächeln. »Aber im Grunde haben Sie recht, Fandorin. Ich will Ihnen meine Schlüsse keinesfalls aufzwingen. Sie haben selbst einen Kopf zum Denken und müssen niemandem unbesehen glauben. Statten Sie der Baronesse einen Besuch ab, fragen Sie sie, was immer Sie für nötig erachten. Ich bin sicher, daß die Bekanntschaft Ihnen zu alledem auch einiges Vergnügen bereiten wird. Im Munizipal-Amt erfahren Sie Lady Asters Moskauer Adresse. Noch etwas: Lassen Sie sich, bevor Sie nach Hause gehen, in der Kleiderkammer Maß nehmen. Ich möchte, daß Sie nicht länger in Uniform zum Dienst erscheinen. Der Baronesse meine Empfehlung. Und wenn Sie dann um einiges klüger zurückkommen, machen wir uns an die Arbeit. Graf Surow wartet auf Sie.«
SIEBTES KAPITEL,
in welchem die Pädagogik zur wichtigsten aller Wissenschaften erklärt wird
Die Adresse, die Fandorin auf dem Amt erfahren hatte, führte ihn zu
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