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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sitzend, eingeschlafen sein. Die Vorhänge waren zurückgezogen, freundliches Morgenlicht drang herein, neben ihm stand Brilling in merkwürdigem Aufzug, als Spießbürgerverkleidet: Kaftan mit Aufschlag, Schirmmütze und dreckige Ziehharmonikastiefel.
    »Ist Ihnen das Warten zu lang geworden?« fragte der Chef auf seine übermütige Art. »Entschuldigen Sie die Maskerade, ich komme eben von einer dringenden Nachtpartie. Genug große Augen gemacht, waschen Sie sich erst mal! Abmarsch!«
    Während Fandorin sich waschen ging, kamen ihm die Ereignisse der letzten Nacht allmählich wieder zu Bewußtsein: auch, wie er zuletzt Surows Haus verlassen, Hals über Kopf das Weite gesucht, eine wartende Droschke bestiegen und dem dösenden Kutscher befohlen hatte, in die Mjasnizkaja zu fahren. Er konnte es kaum erwarten, dem Chef seinen Erfolg zu melden, doch als er eintraf, war Brilling nicht da. Als erstes hatte Fandorin einem dringenden Bedürfnis nachgegeben, sich dann ins Kabinett gesetzt, gewartet und nicht gemerkt, wie der Schlaf ihn übermannte.
    Als er ins Kabinett zurückkam, saß Brilling schon wieder in seinem hellen Sommeranzug am Tisch und trank Tee mit Zitrone. Ein zweites Glas im silbernen Untersatz dampfte an der gegenüberliegenden Seite des Tisches; Kringel und Brötchen lagen auf einem Tablett.
    »Frühstücken wir erst mal«, schlug der Chef vor, »und erzählen uns was. Zwar bin ich über Ihre nächtlichen Abenteuer im großen ganzen unterrichtet, aber ein paar Fragen hätte ich noch.«
    »Wieso unterrichtet?« fragte Fandorin voller Enttäuschung, da er sich auf den Bericht gefreut und, nun ja, mit der Absicht getragen hatte, ein paar Details zu verschweigen.
    »Einer meiner Detektive ist bei Surow zugegen gewesen. Ich bin schon seit einer Stunde zurück, habe es nur nicht übers Herz gebracht, Sie zu wecken. Da konnte ich in allerRuhe den Rapport lesen. Eine spannende Lektüre. Vor lauter Spannung bin ich nicht dazu gekommen, mich umzuziehen.«
    Er klopfte mit der flachen Hand auf einige dicht beschriebene Zettel.
    »Kein übler Detektiv, nur leider furchtbar blumig in seiner Ausdrucksweise. Er hält sich für einen angehenden Literaten, schreibt Zeitungskolumnen unter dem Pseudonym Maximus Argus und träumt von einer Karriere als Zensor. Hören Sie zu, das interessiert Sie bestimmt. Wo haben wir die Stelle? Ah, hier.
    Beschreibung des Objekts. Name: Erasmus von Dorn oder von Doren (dem Hören nach). Alter: kaum über Zwanzig. Porträt in Worten: zwei Arschin, acht Werschok groß; magerer Körperbau; Haare glatt, schwarz; Bart: keiner, wohl noch vor der ersten Rasur; Augen hellblau, engstehend, zu den Winkeln hin etwas geschlitzt; Haut reinweiß; Nase schmal, gerade; Ohren anliegend, klein, mit kurzen Läppchen. Besonderes Kennzeichen: anhaltende Wangenröte. Persönlicher Gesamteindruck: typischer Vertreter der verderbten und zügellosen Jeunesse dorée mit ausgeprägtem Hang zur Aufschneiderei. Im Anschluß an die oben dargestellten Geschehnisse entfernte sich die Person gemeinsam mit dem Spieler in das Arbeitszimmer des letzteren. Die Unterredung währte zweiundzwanzig Minuten. Gesprochen wurde leise, mit Pausen. Durch die Tür war so gut wie nichts zu verstehen, nur das Wort Opium vernahm ich deutlich, und von einem Feuer war die Rede. Ich hielt es für geraten, von Doren weiter zu observieren, wurde jedoch offenbar von ihm enttarnt, denn er hängte mich äußerst geschickt ab und entkam in einer Droschke. Ich schlage vor …
Na, das weitere ist nicht so interessant.« Gespannt blickte der Chef Fandorin an. »Was brachte denn die Opiumdiskussion für Ergebnisse? Spannen Sie mich nicht auf die Folter, ich brenne vor Neugier.«
    Fandorin gab den Inhalt des Gesprächs in knappen Worten wieder und zeigte den Brief. Brilling hörte konzentriert zu, stellte ein paar präzisierende Fragen und schwieg dann, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Das Schweigen währte lange, annähernd eine Minute. Fandorin saß und rührte sich nicht, er mochte den Denkprozeß nicht stören, obwohl auch er ein paar Vermutungen in petto hatte.
    »Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen, Fandorin«, begann der Chef, als er wieder zum Leben erwacht war. »Sie haben ausgezeichnete Ergebnisse vorzuweisen. Erstens steht nun vollkommen außer Frage, daß Surow mit dem Mord nichts zu tun hat und von Ihrer Tätigkeit nichts ahnt. Sonst hätte er Ihnen wohl kaum Amalias Adresse gegeben. Damit können wir Version drei begraben. Zweitens sind Sie

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