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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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hämische Grimasse entstellte für einen Moment sein schönes, launisches Gesicht.
    »Ja!«
    »Na, schön. Wenn es die Motte zur Kerze zieht, verbrennt sie früher oder später sowieso.«
    Surow wühlte in dem Berg von Spielkarten, zerknüllten Taschentüchern und Rechnungen auf seinem Tisch.
    »Wo hab ich ihn zum Teufel noch mal? Ah, ich weiß …«
    Er öffnete eine kleine japanische Schatulle – lackiert, mit einem Schmetterling aus Perlmutt auf dem Deckel. »Da hast du ihn! Kam mit der städtischen Post.«
    Mit bebenden Fingern nahm Fandorin das schmale Kuvert entgegen, auf dem in flüssiger, fliehender Handschrift stand:
    An Seine Durchlaucht den Grafen Ippolit Surow, Jakowo-Apostolski-Gasse, im Hause desselben.
    Dem Stempel nach zu urteilen, war der Brief am 16. Mai abgeschickt worden – der Tag, an dem die Beshezkaja verschwunden war.
    In dem Kuvert steckte ein Blatt mit kurzer Notiz auf französisch, ohne Unterschrift:
Mußte abreisen, ohne Gelegenheit zum Abschied. Schreib mir nach London, Gray Street, Hotel Winter Queen, für Miss Olsen. Ich warte. Wage es ja nicht, mich zu vergessen.
    »Und ich wage es doch!« fuhr Surow hitzig auf, um gleich darauf in sich zusammenzusinken. »Jedenfalls will ich es versuchen. Nimm ihn mit, Erasmus. Tu damit, was du magst. Wo willst du hin?«
    »Ich gehe«, sagte Fandorin, während er das Kuvert in seine Tasche steckte. »Es eilt.«
    »O je!« Der Graf nickte mitleidig. »Dann troll dich, flieg schnell hin zum Feuer. Es ist dein Leben, nicht meines.«
    Auf dem Hof wurde Fandorin von Jean eingeholt, der ein Päckchen in der Hand hielt.
    »Hier, mein Herr, Sie haben es vergessen.«
    »Was ist das?« fragte Fandorin, sich unwillig umdrehend.
    »Sie machen mir Spaß. Ihr Gewinn natürlich. Seine Durchlaucht befahlen, ihn nachzutragen und auszuhändigen.«
     
    Fandorin hatte einen wundersamen Traum.
    Er saß in seiner Schulbank im Klassenzimmer des Gouvernementsgymnasiums. Träume dieser Art, meist aufregend und unbehaglich, hatte er nicht selten: Plötzlich war er wieder der Gymnasiast, der in der Physik- oder Algebrastunde an die Tafel gerufen worden war und »schwamm«. Diesmal aber war es nicht nur prekär, sondern richtig zum Fürchten. Und Fandorin begriff nicht, wieso. Er stand ja nicht an der Tafel, er saß auf seinem Platz, die Mitschüler um sich: Iwan Brilling, Achtyrzew, außerdem ein reizender Knabe mit hoher, blasser Stirn und herausfordernden braunen Augen (Fandorin wußte, daß es Kokorin war), zwei Mädchen in weißen Schürzen und noch einer, der mit dem Rücken zu ihm saß. Der war es, vor dem Fandorin sich fürchtete, er bemühte sich, ihn zu übersehen, drehte den Hals statt dessen immerfort nach den Mädchen, von denen die eine schwarz, die andere blond war. Brav die schmalen Hände vorsich gelegt, saßen sie in ihrer Bank. Jetzt sah er: Es waren Amalia und Lisanka. Erstere sandte einen sengenden Blick aus ihren schwarzen Augen, streckte die Zunge heraus; Lisanka hingegen lächelte verschämt und senkte die dichten Wimpern. Nun erst sah Fandorin Lady Aster an der Tafel stehen, den Zeigestock in der Hand, und alles war klar: Hier praktizierte man die neueste englische Erziehungsmethode, bei der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Und das ging sehr gut. Doch als hätte Lady Aster diesen Gedanken gehört, lächelte sie bitter und sagte: »Nein, von wegen Koedukation, ihr seid meine Waisenklasse. Ihr alle seid arme Waisenkinder, und ich muß euch auf den rechten Weg führen.« – »Aber erlauben Sie, Mylady«, widersprach Fandorin, »ich weiß aus sicherer Quelle, daß Lisanka keine Waise ist, sie ist die Tochter eines Wirklichen Geheimrats.« – »
Oh, my sweet boy
«, sagte die Lady und wurde noch trauriger dabei, »sie ist ein unschuldiges Opfer, und das ist dasselbe wie ein Waisenkind.« Der furchterregende Jemand, welcher vor ihm saß, wandte sich nun langsam um, starrte ihn mit glasig weißen Augen an und flüsterte: »Ich, Asasel, bin auch ein Waisenkind!« Er zwinkerte verschwörerisch, dann fügte er – da hört sich doch alles auf! – mit Brillings Stimme hinzu: »Und darum, junger Freund, muß ich Sie töten, was ich zutiefst bedauere … He, Fandorin, was sitzen Sie da wie ein Ölgötze! Fandorin!«
    Jemand rüttelte den alptraumgeplagten Kollegienregistrator an der Schulter. »Wachen Sie auf, der Morgen ist da!«
    Fandorin zuckte zusammen, fuhr hoch, wandte den Kopf: Er befand sich im Kabinett des Chefs, mußte, am Tisch

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