Fandorin
leichtsinnig, vom Bahnhof direkt hierherzufahren, ohne erstIhre Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen. Na, und drittens habe ich Sie nicht umsonst in diesem schrecklich unbequemen Sessel mit so seltsam geschwungener Lehne plaziert.«
Sie tat eine winzige Handbewegung, und aus den hohen Armstützen sprangen zwei Stahlbänder hervor, die Fandorin fest an die Sessellehne zogen. Ohne noch recht zu begreifen, wie ihm geschah, versuchte er aufzuspringen, konnte sich jedoch überhaupt nicht mehr rühren; die Füße des Sessels schienen mit dem Fußboden verwachsen zu sein.
Die Lady schwang ein Glöckchen. Im selben Augenblick stand Andrew im Zimmer, so als hätte er mit gespitzten Ohren hinter der Tür gelauert.
»Andrew, mein Bester, hol bitte rasch Professor Blank«, trug die Lady ihm auf. »Du kannst ihm unterwegs die Sachlage erläutern. Ach ja, er soll Chloroform mitbringen. Und Timothy soll sich um den Kutscher kümmern.« Sie seufzte traurig. »Da kommen wir leider nicht drum herum.«
Andrew verbeugte sich wortlos und trat ab. Im Kabinett wurde nicht mehr gesprochen: Keuchend rutschte Fandorin in seiner stählernen Falle hin und her, versuchte sich zu drehen, um an die rettende Herstal hinter seinem Rücken zu gelangen, doch die verdammten Stahlbänder waren so fest gespannt, daß er die Idee getrost vergessen konnte. Teilnahmsvoll beobachtete die Lady ihren zappelnden Gast und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf.
Wenig später hallten eilige Schritte vom Korridor her, und zwei Männer traten ein: Professor Blank, das physikalische Genie, und der stumme Andrew.
Der Professor sah den Gefangenen kurz an und fragte die Lady auf englisch, ob »es« etwas Ernstes sei.
»Ja, ziemlich ernst«, sagte sie und seufzte. »Aber nicht hoffnungslos. Natürlich müssen wir ein paar Vorkehrungentreffen. Ich möchte nur nicht unnötig zum äußersten Mittel greifen. Und so entsann ich mich, mein lieber Junge, daß Sie schon lange von einem Experiment am Menschenmaterial träumen. Die Gelegenheit scheint günstig.«
»Eigentlich fühle ich mich für die Arbeit am menschlichen Hirn noch nicht vollends gewappnet«, sagte Blank unschlüssig und betrachtete Fandorin, der still geworden war. »Wobei es andererseits ein Frevel wäre, solch eine Chance ungenutzt zu lassen.«
»Betäubt werden muß er in jedem Fall«, bemerkte die Baronesse. »Haben Sie das Chloroform dabei?«
»Sehr wohl, das haben wir gleich.« Der Professor zog aus seiner geräumigen Kitteltasche ein Fläschchen und goß reichlich Flüssigkeit daraus auf sein Taschentuch. Sofort stieg der beißende medizinische Geruch in Fandorins Nase. Er wollte protestieren, doch Andrew war mit zwei Sätzen neben dem Sessel und packte den Gefangenen mit unerhörter Kraft bei der Kehle.
»Verzeihen Sie, mein armer Junge«, sagte die Lady und wandte sich ab.
Blank zog eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche, sah über die Ränder seiner Brille hinweg auf das Zifferblatt und drückte Fandorin den weißen Lappen fest ins Gesicht. Nun war die Stunde gekommen, da ihm die lebensspendende Lehre des unvergleichlichen Chandra Johnson zum Nutzen gereichen sollte! Er beschloß, das tückische Aroma, dem so gar kein Prana innewohnte, nicht an sich heranzulassen. Eine Übung im Atemanhalten war ohnedies wieder einmal fällig.
»Eine Minute dürfte mehr als genug sein!« verkündete der Wissenschaftler, während er das Tuch auf Mund und Nase des Delinquenten gepreßt hielt.
Uuund acht, uuund neun, uuund zehn! zählte Erast Fandorinin Gedanken, wobei er nicht vergaß, krampfhaft den Mund aufzureißen, die Augen hervorquellen zu lassen und Krämpfe zu mimen. Übrigens wäre ihm, auch wenn er gewollt hätte, das Atmen schwergefallen, da Andrew seinen Hals mit eisernem Griff umklammerte.
Inzwischen war er schon über die Zahl achtzig hinausgelangt, die Lungen hielten der Gier einzuatmen heldenhaft stand, und immer noch kühlte der feuchte, widerliche Lappen sein glühendes Gesicht. Fünfachtzig, sechsachtzig, siebachtzig! schummelte Fandorin nun ein wenig beim Zählen, versuchte, den unerträglich langsam kriechenden Sekundenzeiger mit letzter Kraft anzuschieben. Und da erst fiel ihm ein, daß er nicht mehr zucken durfte – es war höchste Zeit, das Bewußtsein zu verlieren! Fandorin erschlaffte, hörte auf zu zappeln, ließ, um noch eins draufzugeben, den Unterkiefer hängen. Bei dreiundneunzig nahm Professor Blank den Lappen weg.
»Allerhand!« konstatierte er. »Dieser Organismus
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