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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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durchschlagende Erfolge! Und darum war ihnen allen so viel daran gelegen, Cunningham von ihren Karrieresprüngen zu berichten – so attestierten sie ihre Prosperität und daß die richtige Wahl getroffen war! Und es verstand sich von selbst, daß all diese Genies ihrer alten Kommune gegenüber absolute Loyalität bewiesen, es war ihre Familie, die einzige, die sie je hatten – sie war esgewesen, die sie vor der grausamen Welt in Schutz genommen, gehegt und gepflegt und ihnen ihr unverwechselbares Ich entdeckt hatte. Fast viertausend in alle Welt verstreute Genies – fürwahr eine stattliche Familie! Es lebe Cunningham, es lebe die »Führernatur«! Aber nein, Moment …
    »Wie alt war Cunningham eigentlich, Mylady?« fragte Fandorin mit gerunzelter Stirn.
    »Dreiunddreißig«, gab die Lady, ohne zu zögern, Auskunft. »Am 16. Oktober wäre er vierunddreißig geworden. An seinem Geburtstag pflegte Gerald eine Feier für die Kinder zu veranstalten, und nicht er bekam Geschenke, sondern die Kinder wurden von ihm beschenkt. Das muß ihn fast sein ganzes Gehalt gekostet haben …«
    »Nein, das haut nicht hin!« rief Fandorin aufs höchste bestürzt.
    »Was haut nicht hin, mein Junge?« fragte die Lady erstaunt.
    »Entrepide ist vor zwanzig Jahren aus dem Meer gefischt worden! Da war Cunningham gerade dreizehn. Und Dobbs scheffelte sein Vermögen vor einem viertel Jahrhundert, als Cunningham noch nicht einmal Waise war! Er kann es nicht sein!«
    »Wovon reden Sie?« Die Engländerin konnte Fandorins Gedanken nicht folgen, zwinkerte irritiert mit ihren blauen Augen.
    Fandorin starrte die Lady an, wortlos, von einem furchtbaren Verdacht erfüllt.
    »Also nicht Cunningham«, flüsterte er. »Sondern … Sie! Sie waren vor zwanzig und fünfundzwanzig und vierzig Jahren auf der Welt! Wer, wenn nicht Sie! Cunningham ist in der Tat nur Ihre rechte Hand gewesen. Vierzigtausend Zöglinge – wenn man es recht bedenkt, alles Ihre Kinder! ›Sie hat mehrfür uns beide getan als jede Mutter‹, habe ich Morbid und Franz sagen hören, und jetzt wird mir klar, daß Sie gemeint waren und nicht Amalia! Einem jedem verhalfen Sie zum Lebensziel, einen jeden brachten Sie ›auf den richtigen Weg!‹ Unglaublich ist das, ganz unglaublich!« Fandorin stöhnte wie unter Schmerzen. »Sie haben Ihre pädagogische Theorie von Anfang an dazu mißbraucht, eine Weltverschwörung anzuzetteln!«
    »Na! Nun nicht von Anfang an«, entgegnete Lady Aster seelenruhig; mit ihr war eine Wandlung vor sich gegangen, die schwer zu beschreiben, doch nicht zu übersehen war. Nicht mehr die sanfte, friedvolle Alte saß Fandorin gegenüber. Ihre Augen sprühten vor Esprit, Selbstgerechtigkeit und unbeugsamer Kraft. »Zuerst wollte ich wirklich nichts anderes, als die armen, obdachlosen Menschenkinder zu retten. Ich wollte sie glücklich machen – so viele, wie ich konnte. Hundert oder tausend, gleichviel. Doch meine Bemühungen waren wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Während ich ein Kind rettete, wurden Tausende und Abertausende dieser kleinen, mit Gottes Funken beseelten Menschen vom grausamen Moloch der Gesellschaft verschlungen. Ich begriff, daß meine Arbeit sinnlos war. Man kann das Meer nicht mit dem Löffel ausschöpfen.« Lady Asters Stimme gewann immer mehr an Festigkeit, die gebeugten Schultern strafften sich. »Und außerdem verstand ich, daß der Herrgott mich zu mehr befugt hat. Ich kann nicht nur eine Handvoll Waisenkinder retten, ich kann die Welt retten. Vielleicht nicht zu Lebzeiten, vielleicht erst zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre nach meinem Tod. Das ist meine Berufung, meine Mission. Jedes meiner Kinder ist ein Juwel, ist die Krone der Schöpfung, ein Ritter des neuen Menschentums. Jedes erbringt unermeßlichen Nutzen, wirdmit seinem Leben die Welt zum Besseren wenden. Sie verfassen weise Gesetze, entlocken der Natur ihre Geheimnisse, schaffen erlesene Kunstwerke. Von Jahr zu Jahr werden es mehr, und es kommt der Tag, da haben sie diese garstige, ungerechte, verbrecherische Welt verwandelt!«
    »Erzählen Sie mir doch nichts von Geheimnissen der Natur und erlesenen Kunstwerken!« versetzte Fandorin sarkastisch. »Ihnen geht es einzig um Macht. Ich habe doch die Listen gesehen: Da waren nichts als Generäle und künftige Minister.«
    Die Lady lächelte herablassend.
    »Mein Lieber, Sie müssen wissen, daß Cunningham bei mir lediglich für die Kategorie F zuständig war – eine von vielen. F bedeutet Force, also das, was die

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