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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Es wäre doch der reinste Frevel. Nein, ich möchte Ihnen einige Fragen zu Cunningham stellen, weiter nichts.«
    »Selbstverständlich! Fragen Sie, was Sie wollen. Gerald, der arme Teufel … Wissen Sie, er stammte aus bestem Hause, doch seine Eltern erlitten auf der Rückreise aus Indien Schiffbruch, und so wurde der Junge mit elf Jahren Waise. Bei uns in England herrschen unerbittliche Erbfolgegesetze, der älteste Sohn ist Alleinerbe, Titel und Vermögen fallen ausschließlich ihm zu, und die Jüngeren gehen häufig vollkommen leer aus. Gerald war der jüngste Sohn eines jüngsten Sohnes, mittellos und ohne Bleibe, die Verwandten scherten sich nicht um ihn. Hier, sehen Sie, ich schreibe gerade einen Beileidsbrief an seinen Onkel, ein nichtsnütziger Gentleman, der sich für Gerald nie interessiert hat. Aber was hilft es, wir Engländer legen nun einmal großen Wert auf Formalitäten!« Lady Aster ließ einen Briefbogen sehen, der mit engen, altmodischen Schriftzügen voller Schnörkel und Kringel gefüllt war. »Jedenfalls habe ich das Kind damals zu mir genommen. Gerald legte eine hervorragende mathematische Begabung an den Tag, ich meinte damals, er müßteProfessor werden, doch sein unsteter Geist und sein Ehrgeiz standen einer Gelehrtenlaufbahn entgegen. Bald bemerkte ich, daß der Junge bei den anderen Kindern große Autorität genoß, es gefiel ihm, Anstifter zu sein. Er war eine Führernatur: mit seltener Willenskraft, Disziplin, einem untrüglichen Gespür für die Stärken und Schwächen von Menschen. Im Asternat von Manchester wurde er zum Sprecher gewählt. Ich hatte erwartet, daß Gerald in den Staatsdienst eintreten oder sich mit Politik befassen würde – aus ihm wäre ein hervorragender Kolonialbeamter geworden, später vielleicht sogar ein Generalgouverneur. Wie groß war mein Erstaunen, als er den Wunsch äußerte, bei mir zu bleiben und Erziehungsarbeit zu leisten!«
    »Ja, freilich!« nickte Fandorin. »So bekam er Gelegenheit, auf die ungefestigten kindlichen Naturen Einfluß zu nehmen und später Kontakte zu den Absolventen aufzubauen.« Fandorin hielt inne, ihm war plötzlich ein Einfall gekommen. Aber ja! Unbegreiflich, daß er das nicht früher erkannt hatte!
    »Schon bald war Gerald für mich unersetzlich geworden«, fuhr die Lady fort; den veränderten Gesichtsausdruck ihres Gegenüber schien sie nicht zu bemerken. »Wie selbstlos und unermüdlich er tätig war! Und dazu dieses einzigartige linguistische Talent: Ohne ihn wäre ich über die Arbeit der Filialen in so vielen Ländern nie und nimmer auf dem laufenden geblieben. Daß ihm dieser unmäßige Ehrgeiz zusetzte war mir klar. Das ist ein Kindheitstrauma: den Anverwandten beweisen zu wollen, daß man es auch ohne sie zu etwas bringt. Ich fühlte diesen seltsamen Zwiespalt, fühlte ihn sehr genau: Bei seinen Fähigkeiten und Ambitionen mochte er sich mit der bescheidenen Rolle eines Pädagogen nie zufriedengeben, da konnte das Gehalt noch so anständig sein.«
    Fandorin hörte nicht mehr zu. Als wäre in seinem Kopf eine Glühbirne angegangen – alles, was zuvor im Dunkeln gewesen, lag nun im hellen Licht. Alles paßte zusammen! Der wer weiß woher aufgetauchte Senator Dobbs, der französische Admiral »ohne Gedächtnis«, der türkische Effendi ungewisser Abkunft, na, und der tote Brilling auch, jawohl! Überirdische Wesen? Marsmenschen? Invasoren aus dem Jenseits? Pustekuchen! Alle waren sie Asternatszöglinge! Findelkinder! Ausgesetzte! Wohlgemerkt nicht in dem Sinne, daß sie heimlich vor die Asternatstür gelegt worden wären, nein, umgekehrt: Von hier hatte man sie ausgesetzt – in alle Welt! Jeder war in trefflicher Weise ausgebildet worden, jeder verfügte über ein geschickt hervorgekitzeltes, sorgfältig gehegtes Talent! Gewiß nicht zufällig hatte man den kleinen Jean ins Fahrwasser einer französischen Fregatte geschoben – der Knabe mochte die Anlagen zu einem überdurchschnittlichen Seemann gehabt haben. Es mußte allerdings Gründe geben, weshalb man darauf bedacht war, die Herkunft des Wunderkinds zu verschleiern. Und diese lagen auf der Hand. Hätte die Welt erfahren, wieviel glänzende Karrieristen aus den Brutkästen der Lady Aster hervorgingen, sie wäre auf der Hut gewesen! So aber schien sich alles ganz von selbst zu ergeben. Ein sanfter Stoß in die richtige Richtung – und das Talent kam zum Vorschein. Darum also errang jedes einzelne Exemplar aus der Kohorte der »Waisen« in seiner Laufbahn so

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