Fangonia (German Edition)
Gegenwind war stärker als er gedacht hatte – und landete genau auf der Kante der gegenüberliegenden Felswand. Die Ferse schwebte über dem Abgrund. Fest gruben sich seine Zehen in den harten Fels. Er schwankte, ruderte mit den Armen, balancierte. Dina konnte gar nicht hinsehen. Muschelstaub schrie.
Dann, Wilbur lehnte sich entschieden nach vorne und ließ sich auf den Felsvorsprung fallen. Sofort hüpfte Muschelstaub von ihm herunter und eilte hastig einige Schritte vom Abgrund weg. Die kleine Fee saß wohlbehalten in der Tasche. Wilbur setzte sich auf und winkte Dina fröhlich zu.
„Alles bestens!“, der Wind wehte seine Worte zu ihr hinüber. „Jetzt bist du dran!“
Dina schluckte. Sie legte sich wieder auf den Bauch und robbte zu der Schlucht. Vorsichtig schob sie ihre Beine über den Abgrund. Ihre Füße suchten Halt auf einem kleinen Felsvorsprung. Dann schob sie langsam tastend ihren Oberkörper nach.
Wie ein Bergsteiger hing sie nun an der zerklüfteten Felswand. Nur, dass sie keinerlei Absicherung hatte. Nichts würde einen Sturz in die Tiefe verhindern. Langsam, behutsam tasteten sich Dinas Füße und Hände den Weg nach unten. Jede Bewegung musste genau überlegt sein. Mehrmals bröckelte ein kleiner Felsen unter ihren Füßen weg. Jedes Mal rutschte sie dann ein Stück hinunter, bis ihre Hände sich erneut in eine Felsspalte zwängen konnten.
Ihre Freunde verfolgten von der anderen Seite die Kletterpartie, gespannt und mit offenem Mund. Ihnen blieb jedes Mal fast das Herz stehen, wenn sich ein Stein unter Dinas Füßen löste und in das tosende Wasser fiel. Doch Dina behielt die Nerven.
Nicht nach unten gucken , hatte sie sich selbst eingeschworen. Und daran hielt sie sich.
Freudig sah sie, wie der Abstand nach oben immer größer wurde. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde sie den großen Felsen unten erreichen. Der Gedanke beflügelte sie. Jetzt nur nicht leichtsinnig werden , zügelte sie ihren Übermut. Noch hast du es nicht geschafft!
Doch nach ein paar weiteren Kletterzügen fanden ihre Füße den rettenden Felsen. Glücklich winkte sie den anderen oben zu. Ihre Freunde riefen ihr irgendetwas Aufmunterndes hinunter, doch sie konnte es nicht verstehen. Der Lärm des tosenden Wassers schluckte jeden anderen Ton.
Dina konzentrierte sich wieder auf den Felsen. Das Wasser spritzte seine Gischt bis zu ihr hoch. Wie kleine Nadelstiche trafen die eiskalten Tropfen auf ihre Haut.
Vorsichtig setzte Dina einen Fuß vor den anderen, balancierte sich mit den Armen aus. Der Felsen war sehr glitschig. Dina bewegte sich von der Felswand weg auf die Mitte des Flusses zu. Links, rechts, vor ihr – überall donnerte das Wasser. Es riss erbarmungslos alles mit sich, was sich ihm in den Weg stellte. Dina sah viele Äste und Zweige vorbeirasen. Sie durfte sich davon nicht beeindrucken lassen, musste sich konzentrieren. Ihre Füße rutschten langsam über den nackten Felsen, sie stand jetzt fast auf der Kante. Von hier aus trennten sie etwa anderthalb Meter von der gegenüberliegenden Felswand. Ein gut gesetzter Sprung müsste genügen, um in den Felsspalten Halt zu finden.
Vor ihr toste das ungeduldige Wasser. Dina blickte nach oben zu ihren Freunden. Wieder riefen sie ihr etwas zu. Sie konnte es nicht verstehen. Aber ihre Gesichter waren angespannt.
Wilbur zeigte nach unten auf irgendetwas.
Gerade drehte sich Dina in die Richtung, in die er wies, da schlug ihr ein Zweig ins Gesicht.
Der Fluss hatte einen jungen Baum mit sich gerissen, dessen Astwerk weit aus dem Wasser ragte.
Dina stolperte zurück. Ihre Füße glitten auf dem rutschigen Stein aus. Vergeblich suchten ihre Hände nach Halt, griffen verzweifelt ins Leere.
Wilbur und seine Freunde sahen mit Schrecken, wie Dina in das tosende Wasser fiel und von ihm verschluckt wurde.
Rubeus und Roberta
D ie Strömung war reißend. Die Stromschnellen packten Dina, wirbelten sie herum. Ständig schlug die Gischt über dem Kopf des Mädchens zusammen, drückte es unter die tobenden Wassermassen. Dann kämpfte Dina sich wieder an die Oberfläche, schnappte nach Luft. Erneut ergriff sie ein Strudel und zog sie unter Wasser. Haarscharf sauste sie an einem spitzen Felsen vorbei. Das Wasser war eiskalt. So kalt, dass es auf der Haut brannte. Lange würde sie es hier nicht mehr aushalten. Ihr ganzer Körper fühlte sich klamm an. Wie lange würde sie noch die Kraft aufbringen können, um sich den Weg an die Oberfläche, zur Luft, zum Leben zu
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