Farben der Schuld
Bea macht.
Unschlüssig schaut Ruth zu den Fenstern der Telefonseelsorge hoch, während es allmählich dunkel wird. In Hartmut Warnholz' Arbeitszimmer schaltet jetzt jemand das Licht ein, er ist also wohl wirklich da. Aber sie schafft es trotzdem nicht, sich aus dem Hauseingang zu lösen, in dem sie lehnt. Jemand hat ihre Tochter zusammengeschlagen und ihr wahrscheinlich auch noch Schlimmeres angetan. Vergewaltigung. Das Wort ist so grauenvoll, es lässt Ruth schaudern. Vielleicht sollte sie zur Polizei gehen, ja, das sollte sie. Vielleicht ist das ihre Pflicht. Aber was geschieht, wenn Bea das wirklich unter keinen Umständen will, wird sie sich dann nicht erst recht verraten fühlen und sich endgültig von ihrer Mutter abwenden? Falls sie das nicht ohnehin schon getan hat. Du hast Jana im Stich gelassen! Du bist schuld an ihrem Tod! Als Bea sich so heftig von ihr losriss, war Ruth mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Sie muss richtig weggetreten gewesen sein, denn als sie sich aufrappelte und auf die Straße lief, war von ihrer Tochter nichts mehr zu sehen. Ruth schiebt die klammen Finger in die Manteltaschen. Ich kann das Kind nicht kriegen, hatte das Mädchen am Telefon geschluchzt. Das Mädchen, das vielleicht Jana war. Ich bin doch erst 16. Ich will doch singen.
Gott, fleht Ruth zum wiederholten Mal, Gott. Bitte steh mir bei und beschütze meine Tochter. Und als ob Gott sie endlich doch noch erhören wollte, springt jetzt im Treppenhaus der Telefonseelsorge das Licht an und jemand läuft die Stufen herab. Hartmut! Unwillkürlich löst Ruth sich aus ihrem Versteck. Doch im nächsten Moment weicht sie wieder zurück. Eine Frau tritt dort drüben auf den Bürgersteig. Eine Frau in tailliertem Ledermantel mit wilden Locken – ganz unverkennbar die Sommersprossige, die Ruth gestern vor Hartmut Warnholz' Wohnung fast umgerannt hat. Geht ein paar Schritte, bleibt dann scheinbar unschlüssig stehen, dreht sich eine Zigarette und sieht wie Ruth zu den Fenstern der Telefonseelsorge hinauf, während sie ihr Handy zückt und mit jemandem telefoniert.
Wer ist diese Frau? Was hat sie mit Hartmut Warnholz zu tun? Gesprächsfetzen überschlagen sich in Ruths Kopf. Georg Röttgen ist sterilisiert. – Der glotzt mir immer so geil auf den Arsch. – Vertrau mir Ruth, Georg Röttgen hat Bea nichts getan. Ein Taxi fährt vor, die Lockige winkt, steigt ein, immer noch telefonierend. Wer ist sie, was hat sie mit Hartmut Warnholz zu tun? Hat sich womöglich nicht Priester Röttgen versündigt, sondern er? Ich hab deinen heiligen Hartmut schon nachts bei Sankt Pantaleon gesehen, hat Bea neulich in einem Streit behauptet. Doch wieso sollte Ruth ihr glauben, wenn Bea ständig lügt und provoziert und alles durcheinanderbringt?
Wieder geht drüben die Haustür auf, und diesmal erscheint Hartmut Warnholz auf der Straße. Er hält einen Moment inne, schaut nach links und nach rechts, als wolle er sich vergewissern, dass seine lockige Besucherin tatsächlich verschwunden ist, dann läuft er Richtung Innenstadt, und ohne das bewusst zu beschließen, wie magisch angezogen, beginnt Ruth ihm zu folgen.
Er läuft ruhig, zügig. Zunächst an der hohen Mauer entlang, hinter der sich der Park des Kardinalspalais verbirgt und eine Weile glaubt sie, dass er vielleicht einen Termin beim Kardinal wahrnehmen will oder im Priesterseminar, dann, dass er wohl einfach nach Hause geht. Doch so ist es nicht, denn nach etwa einer Viertelstunde erreicht er den Rudolfplatz und steigt in eine Bahn der Linie x.
Ruth rennt auf den Taxistand zu. Sie muss verrückt sein, wirklich völlig verrückt, total durchgedreht. Trotzdem steigt sie in eine der Taxen und bittet den Fahrer, einfach hinter der Bahn herzufahren. Es ist ihr völlig egal, dass der Mann sie sicherlich für eine klimakterische, hysterisch eifersüchtige Ehefrau hält, und dass sie sich diese Taxifahrt überhaupt nicht leisten kann, zumal sie auch noch Extratrinkgeld dafür anbietet, wenn sie an jeder Straßenbahnhaltestelle warten, bis die Bahn wieder anfährt. Sie will wissen, wo Hartmut Warnholz hinfährt. Sie will diesen furchtbaren Verdacht gegen ihn nicht länger ertragen. Sie muss wissen, ob sie ihm vertrauen kann.
Sie fahren etwa zehn Minuten stadtauswärts, am Melatenfriedhof vorbei, was ihren Puls nur noch weiter in die Höhe treibt. Doch Hartmut Warnholz bleibt in der Bahn sitzen, vielleicht hat er also gar nichts mit Beas Zustand zu tun, vielleicht ist ihr Verdacht gegen ihn
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