Farben der Schuld
draußen zu sehen, und es regnet in Strömen. Sie weiß nicht, wie spät es ist, aber es ist Tag.
Vergewaltigung. Wer wird ihr das glauben, wenn sie sich nicht mal richtig erinnern kann? Niemand, gar niemand und schon gar nicht dieser arrogante Kommissar.
Alles tut weh. Immer noch schlagen ihre Zähne aufeinander und sie kann nicht richtig laufen, torkelt gegen eine der Hausfassaden, muss sich anlehnen, setzen.
Menschen hasten an ihr vorbei. Schlagen einen Bogen um sie. Wenden den Blick ab. Ein versoffener Punk, eine Satansbraut, wen kümmert das schon, solange sie einem nicht vor die Füße kotzt? Vergewaltigung. Es brennt zwischen ihren Beinen, ihr ganzer Körper ist wund. Es ist nicht wahr, fleht sie stumm, es ist einfach nicht wahr.
Sie weiß nicht, wie spät es ist, als sie endlich zu Hause ist. Sie weiß nicht, ob ihre Mutter da ist, hofft einfach, dass sie sie in Ruhe lässt, findet den Hausschlüssel in ihrer Rocktasche, öffnet die Tür.
Es ist so still in der Wohnung. So sauber. So warm. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie taumelt in den Flur, reißt den Schirmständer um.
»Beatrice!«
Wie aus dem Boden gewachsen steht ihre Mutter vor ihr, mit weit aufgerissenen Augen.
Bat schüttelt den Kopf, setzt sich wieder in Bewegung. Torkelt gegen die Garderobe, gleich darauf gegen den Spiegel.
»Beatrice!«
Mit einer Kraft, die sie ihr gar nicht zugetraut hätte, fasst ihre Mutter nach ihr. Bat versucht sich aus diesem Griff zu befreien, sie will ins Bett, sie will nicht reden, sie will nichts erklären, sie will nicht eine weitere Litanei von Beschimpfungen hören.
Etwas reißt mit einem hässlichen Laut – ihr Mantel, Knöpfe kullern auf den Boden.
»Bea! O Gott, um Himmels willen, Kind! Dein Kopf ist ganz blutig und deine Bluse … Was ist bloß passiert?«
»Lass mich, ich will schlafen!«
»Nein, Bea, nein. Du bist – o Gott, die Polizei, wir müssen …«
»Nein!« Sie will schreien, aber es klingt eher wie ein Flüstern und auch das tut ihr weh in der Kehle, kratzt und beißt. Wieder versucht sie loszukommen, aber ihre Mutter ist stärker und dreht sie zum Spiegel.
»WER HAT DAS GEMACHT?«
Es tut so weh. »Ich weiß nicht. Niemand.«
»Wir müssen ins Krankenhaus, jemand muss dich untersuchen. Sie müssen dir was geben, Bea, bitte, denk doch an Jana. Was, wenn du schwanger bist, wie sie?«
»Jana war schwanger?« Bat erstarrt. Sieht den Mund ihrer Mutter, die bebenden Lippen, übergroß.
»Ich weiß es doch nicht sicher, aber da war dieser Anruf, sie hat sich ja nicht mit Namen gemeldet, aber sie war so verzweifelt und so jung und sie klang wie Jana und einen Tag später war Jana tot …«
Jana war schwanger. Jana war so verzweifelt, dass sie in der Telefonseelsorge angerufen hat. Deshalb hat Lars sie getötet. Deshalb. Weil sie von ihm schwanger war. Jana konnte ja nicht wissen, dass Bats Mutter in der Telefonseelsorge arbeitete, damals hat Bat sich ja noch an die Auflage gehalten, niemandem davon zu erzählen.
»Was hast du ihr geraten?« Sie fühlt keine Schmerzen mehr, keine Müdigkeit, keine Verzweiflung. Nur Wut. Kalte, alles verschlingende Wut.
»Ich habe ihr gesagt, dass sie mit ihren Eltern reden soll. Und mit dem Vater des Kindes. Dass es für alles eine Lösung gibt, dass …«
Eine Lösung, na klar. Eine Lösung auf Janas Kosten. Denn eine Abtreibung kommt für ihre feine, katholische Mutter mit ihrem Priesterpack natürlich nicht in Frage. Bat reißt sich los, so heftig, dass ihre Mutter zu Boden fällt.
»Du hast Jana im Stich gelassen! Du bist schuld an ihrem Tod!«
Ein schlichtes Kreuz markiert das Klingelschild der Telefonseelsorge, ein Code, den nur Eingeweihte verstehen.
Judith drückt auf die Klingel und gelangt in ein Treppenhaus, in dem es ebenfalls keinerlei Hinweise auf die Telefonseelsorge gibt. Es ist beinahe unwirklich still hier drinnen, nur ihre durchnässten Stiefel quietschen auf dem Steinboden. Ihre Knie sind zittrig. Auf einmal merkt sie, wie müde sie ist, ausgelaugt, wie lang dieser Tag schon war und dass sie bald nicht mehr kann. Nach dem Termin mit dem externen Ermittler ist sie zu Fuß in die Innenstadt gelaufen. Zu Fuß durch den Regen, wie damals mit Erri, und mit jedem Schritt blieb der Ort ihrer Albträume weiter zurück.
»Judith.« Im dritten Stock kommt ihr Hartmut Warnholz entgegen und sofort rückt das Haus wieder näher. Wird es zu einem Prozess gegen sie kommen oder wird sie rehabilitiert? Sie weiß es noch immer nicht, war zu
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