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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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wirklich nichts als Hysterie, denn erst in Junkersdorf steigt er aus.
    »Halt, was bekommen Sie?«
    »18 Euro.«
    Sie gibt dem Mann einen Zwanziger und springt auf den Gehweg. Wo ist Hartmut Warnholz? Dort, auf der anderen Seite der Straße. Die Ampel schaltet auf Grün, Verkehr brandet an ihr vorbei, es dauert eine Ewigkeit, bis sie ihm folgen kann und die Panik schnürt ihr den Hals zu, weil sie ihn nicht mehr sieht. Auf gut Glück rennt sie in eine Querstraße und atmet auf. Da vorne ist er. Er läuft nun langsamer, als sei er müde, bleibt schließlich vor einem gepflegten Zweiparteienhaus stehen und drückt auf eine der Klingeln.
    Es ist nun fast ganz dunkel, und Hartmut Warnholz macht keinerlei Anstalten, sich umzudrehen. Dennoch hält Ruth den Atem an, als sie schrittweise näher schleicht. Jetzt ertönt ein Summen und er drückt das Gartentor auf, geht hindurch, zieht es hinter sich zu. Das Außenlicht über der Haustür springt an. Es ist ohne jeden Zweifel Hartmut Warnholz, der dort steht. Und es ist ohne jeden Zweifel eine attraktive junge Frau, die ihm öffnet und nach einem kurzen Zögern seine Hand ergreift und ihn ins Innere des Hauses zieht.
    Es kann nicht sein. Darf nicht sein. Ohne zu überlegen, schleicht Ruth noch näher. Gerade rechtzeitig, um Hartmut Warnholz ans Fenster der Parterrewohnung treten zu sehen. Blumen-und Tierbilder kleben drauf, wie sie Kinder im Kindergarten basteln. Doch Hartmut Warnholz scheint dieses Dekor nicht zu beachten, er starrt auf die Schaukel, die ein Windstoß im Vorgarten sacht bewegt. Fast so, als sei ein übermütiges Kind gerade abgesprungen, sieht das aus.
    ***
    Die Frau ist winzig, bestimmt einen Kopf kleiner als sie selbst. Sie hat grellrote Strähnen in den akkurat frisierten schwarzen Haaren und trägt ein knallrotes, tailliertes Wollkleid und alberne weiße Stiefel. Aber ihre Stimme ist überraschend dunkel und kehlig, und da ist etwas in ihren kohlschwarzen Augen, das Bat Respekt einflößt und ihr zugleich das unangenehme Gefühl gibt, durchsichtig zu sein.
    »Das ist Doktor Ekaterina Petrowa«, erklärt die Frau, die Bat bei der Bahnhofsmission abgeholt und zu dieser sonderbaren, kleinen Ärztin gefahren hat. Nach dem Streit mit ihrer Mutter und der schrecklichen Erkenntnis, dass Jana schwanger war und sich so geschämt hatte, dass sie das nicht einmal ihrer besten Freundin anvertraute, ist Bat eine Weile ziellos durch die Stadt gestolpert. Sie wollte zum Friedhof, sie wollte zu Fabi, aber ihr war dauernd schwindlig, sie kam nicht voran. Irgendwann war sie dann am Bahnhof und wollte zur U-Bahn-Station. Aber dann sind ihr die Beine einfach weggeknickt und sie hat mitten auf den Bahnsteig gekotzt und dann stand plötzlich eine ältliche Frau in blauer Uniform vor ihr und führte sie in einen Raum, wo lauter kaputte Typen rumsaßen, und gab ihr Tee und einen Pullover, weil Bat so fror.
    Die winzige Ärztin macht einen Schritt auf Bat zu, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Ist es in Ordnung, wenn ich ›du‹ sage?«
    Bat nickt.
    »Ich würde dich jetzt gern untersuchen.«
    »Okay.«
    »Doktor Petrowa untersucht öfter Frauen und Mädchen, denen jemand Gewalt angetan hat. Du brauchst keine Angst zu haben, sie wird ganz vorsichtig sein«, sagt die Frau, die Bat hergebracht hat. Sie hat kurze, wasserstoffblonde Haare und eine komische Brille. Sie hatte sich Bat mit Namen vorgestellt, Cora irgendwas, sie hatte gesagt, dass sie von irgendeinem Frauennotruf käme. Sie hatte versucht, mit Bat zu reden, wollte wissen, ob sie jemanden anrufen sollte. Ihre Mutter. Eine Freundin. Bat hatte den Kopf geschüttelt. Sie braucht keine Hilfe und sie braucht keine Untersuchung. Sie weiß auch so, dass sie vergewaltigt worden ist. Sie weiß auch so, dass es höllisch weh tut und dass das ihre Schuld ist und dass sie es total verbockt hat, weil sie Lars unterschätzt hat und sich nicht mal richtig an die Vergewaltigung erinnern kann. Aber die Frau hat ihr versprochen, dass sie nach der Untersuchung die Pille danach bekommen würde. Deshalb, nur deshalb ist sie hier.
    »Du musst dich jetzt ausziehen«, sagt die Ärztin.
    Wieder nickt Bat. Hinter dem Fenster liegt der Melatenfriedhof und auch wenn sie Janas Grab von hier aus nicht sehen kann, ist das Wissen, dass sie das Gleiche erlitten hat wie Jana, ein klein bisschen tröstlich. Der Pulli, den ihr die Bahnhofsmissionsfrau geschenkt hat, kratzt auf ihrer Haut, als sie ihn auszieht. Sie schafft es kaum, die Arme über den Kopf

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