Farben der Schuld
Stiefel mit Zeitungspapier aus, stellt eine Maschine Wäsche an, duscht lange und heiß. Auf ihrem Anrufbeantworter ist eine Nachricht von Volker Ludes, der wissen will, wie es ihr geht, in ihrem Kopf scheint sich alles zu drehen. Sie raucht eine Zigarette auf ihrer Fensterbank, starrt die halbdurchsichtige Kontur ihrer Spiegelung im Fenster an. Sie denkt an das Haus, an Hartmut Warnholz, an ihren Vater, die nichts miteinander zu tun haben und in ihrem Bewusstsein dennoch so eng miteinander verbunden sind. Sie denkt an Karl, der in ihren Gedanken nun ebenfalls Raum einnimmt – in ihren Gedanken, in ihrem Leben. Sie glaubt, dass es gut ist mit ihm, sie glaubt das wirklich. Aber natürlich kann sie sich täuschen und falls das so ist, werden die Synapsen in ihrem Hirn, oder was auch immer für ihr Denken und Fühlen verantwortlich ist, damit beginnen, die Geschichte von Judith und Karl umzudefinieren. Eine neue Wirklichkeit wird entstehen, so überzeugend wie die davor, genauso real oder irreal. Oder etwa nicht? Judith steht auf und drückt ihre Zigarette aus. Das Leben ist ein Konstrukt und du kannst auf die Schnauze fallen, Frau, egal, was du tust, das ist dir doch klar?
Unten bei Karl folgt sie ihm in seine Küche und lässt sich auf die Eckbank dirigieren. Es duftet verführerisch und der Tisch ist schon gedeckt, Kerzen brennen. Auf ihrem Teller liegt ein Paket Räucherstäbchen mit exotischer Goldschrift.
»Für dich, aus Nepal. Die hab ich beim Kistenauspacken gefunden.«
Er schenkt ihr Wein ein, füllt ihren Teller mit Pasta Carbonara.
»Ich hab Musik mitgebracht.« Sie gibt ihm die CD, die sie am Mittag gekauft hat. Musik war immer so wichtig in ihrem Leben, doch in den letzten Wochen hat sie sie nicht mehr ertragen, vielleicht weil sie es nicht wagte, sich in andere Welten versetzen zu lassen. Jetzt berühren sie die ersten Klänge der CD dafür umso intensiver. Crosby, Stills, Nash & Young. Sie hat die 4 Way Street an die 20 Jahre lang nicht mehr gehört, aber sie kennt immer noch jeden Gitarrengriff, jeden Klavierakkord, jedes Wort, sie weiß, wann und wie lange Applaus zwischen den einzelnen Stücken aufbrandet, sie kennt sogar viele der Liedtexte auswendig und bekommt bei Graham Nashs Teach Your Children Well genau wie damals eine Gänsehaut.
You who are on the road
Must have a code that you can live by
And so become yourself
Because the past is just a good-bye.
Es fühlt sich an wie die unerwartete Heimkehr in ein verloren geglaubtes Land. Es fühlt sich an wie Glück. Doch als sie fertig gegessen haben und das zweite Glas Wein und Espresso trinken und zu reden beginnen, ernsthafter jetzt, vertrauter, spielt Judiths Handy Queen und sie will gar nicht rangehen, sie will an diesem Abend nicht mehr Kommissarin sein. Nur weil sie Coras Nummer im Display erkennt, meldet sie sich und im nächsten Moment bereut sie es schon, weil es bedeutet, dass sie noch einmal los muss, dass auch dieser Abend mit Karl schon wieder vergangen ist, just a good-bye.
»Das Mädchen ist zusammengeschlagen und vergewaltigt worden, will aber keine Anzeige erstatten und nicht einmal mit der Polizei reden, auch wenn ich ihr geschworen habe, dass du nichts gegen ihren Willen unternehmen würdest«, erklärt Cora, als Judith zu ihr ins Auto steigt und nennt auf der Fahrt weitere Details.
»Wo ist sie?«, fragt Judith.
»Ekaterina hat gesehen, wie sie auf den Melatenfriedhof gegangen ist und ist ihr gefolgt. Das Mädchen hockt jetzt offenbar seit Stunden an einem Grab.«
Beatrice Sollner. Das Gruftimädchen. Noch bevor Cora das bestätigt, weiß Judith, dass es so ist. Jetzt ist sie nicht mehr müde, jetzt fühlt sie in jeder Faser ihres Körpers dieses altbekannte Prickeln. Selbst den Schmerz in ihrem Handgelenk, als sie sich am Tor des Friedhofs hochzieht, und auf die andere Seite klettert, nimmt sie kaum wahr. Sie ist schon oft hier gewesen, aber nie in der Nacht, wenn der spärliche rote Schimmer vereinzelter Grablichter die einzige Lichtquelle ist.
Sie orientiert sich nach links, läuft dann tiefer ins Innere des Friedhofs, in die Richtung, die Cora beschrieb. Ihre Sportschuhe knirschen auf dem Kies, der Verkehrslärm wird schwächer. Judith zwingt sich zu atmen, gleichmäßig, ruhig, gegen die Panik, die nun wieder lauert. Du bist allein hier, allein mit einem Mädchen. Du brauchst deine Walther nicht. Alles ist okay. Es hat sogar aufgehört zu regnen.
Zeit vergeht, sie kann nicht sagen, wie viel, während sie durch die
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