Farben der Schuld
stolz, danach zu fragen.
»Ich bin dienstlich hier«, sagt sie zu Warnholz und glaubt einen Anflug von Ärger in seinem Gesicht zu erkennen, doch beinahe sofort hat er sich wieder unter Kontrolle.
»Sie arbeiten wieder? Das haben Sie gestern gar nicht erwähnt.«
»Nein.«
Verrat. Falsches Spiel. Doch Hartmut Warnholz bleibt gelassen, führt sie in ein halbdunkles, intim anmutendes Büro, deutet auf einen Stuhl, nimmt dann selbst hinter dem Schreibtisch Platz.
Sie zieht den Besucherstuhl näher heran, bevor sie sich setzt. Sie sehnt sich nach Schlaf, tiefem traumlosen Schlaf und die Wärme der Heizung macht sie noch müder. Regen trommelt ans Fenster, was das Gefühl von Intimität noch verstärkt.
»Wie ist es Ihnen nach gestern ergangen, Judith?«
»Ich war heute noch einmal in diesem Haus. Ich habe das geschafft.« Sie sieht ihm in die Augen. »Danke für Ihre Hilfe.«
Er lächelt. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Sie nickt, starrt aus dem Fenster, während Warnholz ein Glas für sie holt. Vielleicht hätte sie diese Vernehmung besser Manni überlassen. Vielleicht ist sie gar nicht dazu in der Lage, Warnholz unvoreingenommen zu betrachten, weil sie sich viel zu sehr wünscht, dass er unschuldig ist. Sie zwingt sich, die Zweifel beiseitezuschieben, die Zweifel, die Müdigkeit. Versucht sich zu konzentrieren.
»Mörder«, sagt sie, als ihr der Seelsorger wieder gegenübersitzt. »Was hat der Täter damit gemeint?«
»Ich weiß es nicht.« Er zögert. »Vielleicht hat das ja gar nichts mit Georg persönlich zu tun, sondern ist eher ein allgemeiner Angriff gegen die Kirche.«
»Das glaube ich nicht«, sagt Judith. »Ich bin inzwischen da von überzeugt, dass der Täter von Anfang an Georg Röttgen töten wollte.«
Warnholz erwidert nichts, sieht sie nur an.
»Georg Röttgen war sterilisiert. Ich bin überzeugt, dass es dafür einen Grund gab, einen Grund, den es jedoch offiziell nicht geben durfte: eine Frau in seinem Leben – vielleicht auch ein Kind, das er zeugte, bevor er sich sterilisieren ließ.«
»Ich kann Ihnen dazu nichts anderes sagen als Ihren Kollegen, Judith.«
»Er war Ihr Freund. Er hat Ihnen vertraut.«
Warnholz nickt. »Ja.«
»Hatte er eine Geliebte?«
Sie glaubt zu erkennen, dass sich die Augen des Seelsorgers verdunkeln. Es gibt diese Frau, denkt sie. Er weiß von ihr. Ich täusche mich nicht.
»Der heilige Georg«, sagt sie leise. »Angeblich starb er an tausend Qualen. Ich glaube, der Täter hat gedacht, auch Ihr Freund hätte solche Qualen verdient. Er hat ihn gehasst. Hat ihn mit einem Elektroschocker gelähmt, hat ihm nicht die kleinste Chance gelassen, sich zu wehren. Sie müssen sich das vorstellen: Wie aus dem Nichts haben Sie höllische Schmerzen, Sie fallen zu Boden, können sich nicht mehr bewegen, können nicht schreien, sehen das Schwert, wie es auf Sie niederfährt.«
Warnholz senkt den Kopf. »Furchtbar, ja.«
»Wollen Sie nicht, dass wir den Mörder Ihres Freundes finden?«
»Natürlich will ich das.«
»Dann helfen Sie mir.«
»Niemand aus der Kirche und niemand aus der Telefonseelsorge ist der Täter, den Sie suchen, Judith.«
»Er war in der Telefonseelsorge nicht sehr beliebt. Er ist hierher versetzt worden, weil er in der Gemeinde in Klettenberg nicht mehr haltbar war.«
»Das ist eine Unterstellung.«
»War er beliebt?«
Warnholz seufzt. »Er war recht konservativ. Das hat nicht immer allen gefallen.«
»Konservativ, das heißt, er hat sehr entschieden die Werte Ihrer Kirche verteidigt, nicht wahr? Keine Verhütung. Keine Abtreibung. Keine Scheidung. Keine Frauen ins Priesteramt …«
»Das ist kein Verbrechen.«
»Und dann steckt er auf einmal in einem furchtbaren Dilemma, weil er selbst diese Regeln gebrochen hat. Er verliebt sich, begehrt eine Frau. Zeugt ein Kind mit ihr.«
Warnholz sieht sie an. Aufmerksam. Unverwandt. So, wie er es auch gestern tat, als sie weinend vor ihm zusammenbrach. Nicht jetzt, Judith, nicht jetzt. Bleib hier, in der Gegenwart.
Sie trinkt einen Schluck Wasser. »Vielleicht hat dieses Kind ja auch niemals das Licht der Welt erblickt. Vielleicht ließ Georg Röttgens Geliebte es abtreiben, vielleicht hat er sie sogar dazu genötigt. Das wäre nach katholischer Auffassung dann Mord, nicht wahr?«
»Georg hätte niemals eine Abtreibung befürwortet.«
»Dann sagen Sie mir, wie es wirklich war. Wer hatte einen Grund, ihn so sehr zu hassen?«
Er räuspert sich. »Wissen Sie, was bei einer Priesterweihe geschieht,
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