Farben der Schuld
Judith?«
»Ich bin evangelisch.«
»Die Weihekandidaten prosternieren sich. Das heißt, sie werfen sich im Verlauf der Weiheliturgie vor dem Altar lang ausgestreckt auf den Boden, während die Allerheiligenlitanei gesungen wird. Es ist ein Übergangsritual, von einem alten zu einem neuen Leben. Ausdruck einer Entscheidung, die ein Leben lang bindet. Es ist ein Zeichen der Demut und Hingabe an Gott.«
»Was hat das mit meiner Frage zu tun?«
»Diese tief empfundene Hingabe ist die Voraussetzung für ein Leben als Priester. Nur wer sich die eigenen Grenzen als Mensch vergegenwärtigt, die Machtlosigkeit, wenn es um Leben und Tod geht, kann Gottes Größe erkennen und sich ihr fügen. Man muss als Persönlichkeit stark und gefestigt sein, um so zu fühlen.«
Hingabe – ein flüchtiges Bild taucht vor Judith auf. Ein Bild ihres Vaters mit seinen Freunden, wie sie sich mit ihren Rucksäcken auf ihren Trip ins Ungewisse begaben, alles zurücklassend, was einmal ihr Leben war, beseelt von ihrem Traum, etwas Besseres zu finden als ein von der Elterngeneration vorgezeichnetes Leben. Freiheit und Liebe und Weltfrieden. Einen neuen Kosmos mit fremden Göttern.
»Es muss Zweifel geben. Krisen«, sagt sie zu Warnholz.
»Natürlich, ja.« Der Seelsorger lächelt. »Wie in jeder Beziehung. Und doch ist die Entscheidung für Gott eine Entscheidung fürs Leben.«
Irgendwo nebenan klingelt ein Telefon. Das Ticken einer Wanduhr dringt in ihr Bewusstsein. Der gedämpfte Verkehrslärm von der Straße. Hartmut Warnholz beugt sich vor und schaltet seine Schreibtischlampe ein. Das Licht blendet sie, sie blinzelt dagegen an, versucht ihm wieder in die Augen zu sehen.
»Sind Sie gläubig, Judith?«
»Das tut hier nichts zur Sache.«
»Vielleicht doch.«
Hingabe. Leidenschaft. Glauben an das Gute, vielleicht sogar an Gott. Sie wünscht sich, sie könnte das noch mal so bedingungslos empfinden. Sieht ihr jüngeres Ich mit Erri, sieht sich später im Studium mit Cora, wie sie für die Sache der Frauen kämpften. Sie waren so vollkommen sicher, das Richtige zu tun und deshalb nicht scheitern zu können. Auch mit ihrem Freund Patrick hatte sie dieses Gefühl der Unschlagbarkeit geeint. Bis ihn ein durchgeknallter Frauenhasser, der kurz zuvor seine Familie ausgelöscht hatte, erschoss.
»Ich weiß nicht, wer Georg Röttgen umgebracht hat, Judith. Und ich versichere Ihnen, dass mein Freund kein Mörder war.«
»Mag sein.« Sie drängt die Tränen zurück, die ihr schon wieder in die Augen steigen wollen. Seit sie Warnholz das erste Mal begegnete, geht das schon so, als bringe er in ihr irgendeinen Damm zum Brechen.
Sie hebt den Kopf: »Mag sein, dass Georg Röttgen kein Mörder war. Und trotzdem verschweigen Sie mir etwas.«
»Sie selbst haben mich gebeten, das, was Sie mit mir besprechen, vertraulich zu behandeln, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das Beichtsakrament ist heilig, Judith. Was ich in der Beichte anvertraut bekomme, erfahre ich als Stellvertreter Gottes, nicht als Mensch. Ich nehme die Last fremder Schuld auf mich, die Last des Wissens. Das ist zuweilen eine schwere Bürde, doch damit muss ich leben. Kein Priester würde je das Beichtgeheimnis brechen.«
»Aber Georg Röttgen ist tot. Sie können ihm nicht mehr schaden. Und was ist, wenn der Täter weitermordet? Können Sie Ihr Schweigen auch dann noch verantworten?«
»Es gibt diese häufig diskutierte Frage in der Priesterausbildung: Was tust du, wenn dir unmittelbar vor der Messe jemand beichtet, er habe den Messwein vergiftet?«
»Und?«
»Man kann die Schweigepflicht nicht verletzen. Aber man würde andere Wege finden, um die Gemeinde zu schützen. Den Messwein verschütten. Die Messe absagen.«
»Und wenn das nicht geht?«
Der Seelsorger antwortet nicht, und auf einmal merkt Judith, dass sie friert.
***
Sie kann Hartmut Warnholz unmöglich schon wieder anrufen und mit ihren Problemen belästigen, auch wenn sie sich mit jeder Faser ihres Körpers nach seinen tröstenden Worten sehnt. Aber wenn sie ihm nun rein zufällig begegnen würde? Sie könnte sagen, sie hätte ihren Schirm in der Telefonseelsorge vergessen, und wenn sie dem Priester dann begegnet, und er sie fragen würde, wie es ihr geht, könnte sie ihm von Bea erzählen, ihrer armen, verwirrten, geschundenen Tochter, die nun halb nackt durch die Stadt irrt oder bei ihrem schrecklichen Freund Fabi untergekrochen ist, auch wenn der behauptet, dass das nicht stimmt und sich offenbar sogar selbst Sorgen um
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