Farben der Schuld
zittern.
»Ärger?« Warnholz mustert sie.
»Kann ich hier rauchen?«
»Lieber nicht. Aber ich könnte Sie vor die Tür begleiten, falls Sie unser Gespräch nicht unterbrechen wollen.«
Es ist längst dunkel draußen, feuchtkalte Nachtluft legt sich auf Judiths Gesicht. Über ihr reißt der Himmel auf, der halb volle Mond steht direkt über ihr und taucht die vorbeiziehenden Wolken in kaltweißes, durchscheinendes Licht. Die Lampe über der Haustür wirft Schlagschatten auf Hartmut Warnholz' Gesichtszüge. Ist er unschuldig oder schuldig? Kennt er den Täter? Und wenn das so ist, was folgt daraus? Judith zündet ihre Zigarette an, das Nikotin beißt in ihrer Kehle. Sie muss wirklich aufhören. Bald. Danach. Wenn sie das Mädchen gefunden hat.
»Falls Sie den Täter decken, sind Sie womöglich selbst in Gefahr.«
»Ich weiß nicht, wer der Täter ist.«
»Aber Sie haben einen Verdacht.«
Warnholz schweigt. Wirkt nicht im Geringsten beunruhigt.
»Georg Röttgen hat noch ein Kind gezeugt. Wie heißt es? Sagen Sie mir wenigstens das.«
Sie glaubt, Zustimmung in seinen Augen zu lesen, doch er sagt noch immer nichts, schüttelt den Kopf.
»Ein Mädchen ist in Lebensgefahr, die Tochter Ihrer Kollegin und Freundin. Zwei Ihrer Freunde sind tot. Können Sie es wirklich mit Ihrem Gewissen vereinbaren, zu schweigen?«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Judith. Bitte respektieren Sie das.«
Sie starrt ihn an. Er weiß etwas. Erneut ist sie sicher, dass es so ist. Er weiß etwas, aber er wird es nicht preisgeben, weil ihm das Beichtgeheimnis heilig ist. Seine Erzählung vom vergifteten Messwein fällt ihr ein. Seine Lösung dafür. Selbstjustiz? Hat er das vor? Ist er womöglich doch Röttgens Mörder?
Sie wird herausfinden, was er verschweigt. Sie wird ihn beschatten, notfalls rund um die Uhr. Sie wird nicht noch einmal versagen. Nicht noch einmal, nicht wie beim letzten Mal.
Und wenn sie sich irrt, wenn Warnholz wirklich nichts weiß? Sie merkt, wie ihr schwindelig wird. Sie hat einen Fehler gemacht, hat etwas übersehen. Etwas, jemanden: Fabian Bender. Er war Janas Freund und ist mit Beatrice eng befreundet.
Wir sind doch Familie, hat er gesagt.
***
Der seltsame Geruch in Röttgens Wohnung ist inzwischen schwächer geworden, in der Küche brummt der Kühlschrank, irgendwo im Haus rauscht Wasser durch eine Leitung. Manni reißt das nächste Fotoalbum aus dem Regal. Er hat Röttgens Jungen gefunden und ist trotzdem wieder am Anfang, denn Verena Neubauer hat ihm überzeugend erklärt, dass weder sie noch jemand, der ihr nahesteht, einen Grund hätte Georg Röttgen zu töten. Im Gegenteil – nach dem Tod des Priesters muss sie nun um die Zahlung der Alimente bangen. Alimente. Geld, geht es am Ende darum?
Vater unbekannt. Manni hat Verena Neubauer versprochen, es – so weit möglich – offiziell bei dieser Version zu belassen. Hat sie recht, gibt es ein zweites Kind Röttgens, für das der Priester sich jedoch weigerte zu zahlen? Und wenn das so ist, wie sollen sie dieses Kind finden? Sie kennen ja nicht einmal sein ungefähres Alter oder sein Geschlecht. Verena Neubauer und Georg Röttgen hatten sich in der Philharmonie kennengelernt, hat sie erzählt. Sie besaßen beide dasselbe Abonnement und saßen zufällig nebeneinander.
Vater unbekannt. Es muss nicht immer schlecht sein, mit dieser Lücke zu leben. Im Gegenteil, nicht jeder Erzeuger taugt auch zum Vater. Und doch forschen zum Beispiel Adoptivkinder ihr ganzes Leben nach ihren leiblichen Eltern, Berichte davon gibt es immer wieder. Und was ist, wenn sie den so schmerzlich vermissten Elternteil tatsächlich finden? Dann kann das schiefgehen, dann kann Daddy sich als Säufer, Schläger, Loser entpuppen. Als ein Typ, mit dem man gar nichts gemeinsam hat, außer vielleicht einer Halbglatze oder der Kinnpartie. Oder Daddy kann ein bigotter Scheinheiliger sein, der was von Sünde und Reue faselt und einen verleugnet.
Manni gibt es dran, klappt das Fotoalbum zu und steht auf. Sein Spiegelbild springt auf das Wohnzimmerfenster, ein blasser Schatten mit doppeltem Rand. Meijku – wie bei der ersten Durchsuchung von Röttgens Wohnung denkt Manni unwillkürlich an diese Kata – den symbolischen Blick in den Spiegel, die Augen der Ahnen. Doch vor einer Woche war dieser Gedanke Spielerei, jetzt wirkt die Präsenz der Ahnen beinahe real. Heute sterbe ich. Wieder schießt ihm dieser Gedanke ins Hirn, wieder fühlt er diesen Druck im Magen.
Sein Handy fiedelt, beinahe
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