Farben der Schuld
Finger, erstarrt. An ihrem rechten Ringfinger steckt ein Ring. Er hat ihr einen Ring angesteckt, der Ring ist zu weit, passt ihr gar nicht richtig, aber sie weiß trotzdem, was dieser Ring bedeutet: Du gehörst mir. Wieder wimmert sie. Verkrümmt die Finger, verrenkt sie, versucht den Ring zu fassen, versucht ihn von ihrem Finger zu schieben.
Ein Ring, sie zu finden und alle zu binden. Tolkien.
Der Herr der Ringe.
So fing das an damals, mit Jana, in der Bibliothek. Beide wollten sie den ersten Band ausleihen und rannten los, um die Wette zum Fantasy-Regal, erreichten es Seite an Seite, griffen nach dem Buch. Es war nur einmal da, sie hielten es beide fest, und Bat war schon fast sicher, sie würde verlieren, weil Jana im Gegensatz zu ihr so ein Mädchen war, das Bibliothekarinnen mögen. Aber dann lächelte Jana plötzlich und alles in Bat wurde wunderbar warm und lebendig, weil sie endlich nicht mehr alleine war. Dann lesen wir das Buch halt zusammen, sagte Jana. Was meinst du, schaffen wir das? Das macht bestimmt Spaß.
Jana, liebe Jana, jetzt weiß ich, wie es dir gegangen ist. Bat schluchzt auf, Tränen und Rotz laufen ihr übers Gesicht, ihre Nase schwillt zu. Oh, bitte nicht, bitte nicht. Warum hilft mir denn keiner?
Sie versucht sich auf die andere Seite zu drehen und schafft es nicht. Sie kämpft weiterhin mit dem Ring. Sie will diesen Ring nicht, will ihn auf keinen Fall weiter tragen. Sie will ihm nicht gehören.
Wo warst du, was hast du mit der Kommissarin geredet? Was? Was? Rede! Rede! Wer hat das gesagt? Er. Sie wimmert, krümmt sich zusammen. Er hat es wieder getan. Er hat sie geschüttelt, geschlagen, zerrissen und dabei angeschrien. Er. Niemand. Gesichtslos. Schwarz. Er hat ihr die Beinfesseln losgemacht. Sie hat versucht, nach ihm zu treten, aber sie war zu schwach. Nimm das und das und das, hat er geschrien. Du hast das Kind wegmachen lassen. Unser Kind! Du hast alles kaputt gemacht. Wie sie!
Er ist nicht Lars! Sie hat sich geirrt, ganz schrecklich geirrt. Die Angst jagt sie hoch, das plötzliche Wissen, wer er ist. Sie bäumt sich auf und für einen klitzekleinen Moment glaubt sie wirklich, sie sei stark genug ihre Fesseln zu sprengen. Dann kracht ihr Kopf gegen Holz. Hart, zu hart. Alles wird schwarz.
***
»Judith!« Hartmut Warnholz wirkt ehrlich überrascht, sie auf der Schwelle seiner Dienstwohnung zu sehen.
»Sie kommen gern unangemeldet«, sagt er nach einem kurzen Zögern und hält ihr die Tür auf.
Sie ergreift die ausgestreckte Hand des Seelsorgers, lässt sich von ihm ins Innere seiner Wohnung ziehen, fühlt einen Anflug der verhassten Panik, die sie noch immer nicht ganz besiegt hat. Nicht stark, eher wie ein leichtes Nervenflattern. Ist das Warnung, Erinnerung oder die Angst um das Mädchen? Ist Hartmut Warnholz der Täter, schützt er den Täter, ist er selbst in Gefahr? Sie sieht ihm in die Augen.
»Ich suche Beatrice Sollner. Ist sie hier?«
»Beatrice? Nein.«
Judith nickt. Was sollte er auch sagen, falls er das Mädchen tatsächlich getötet oder in seine Gewalt gebracht hätte?
»Ich schau mich mal um.«
Sie setzt sich in Bewegung, rekapituliert die Fakten. Hartmut Warnholz war nachts bei Sankt Pantaleon. Er war Röttgens Vertrauter. Er war vor ihrer Vergewaltigung mit Beatrice in der Telefonseelsorge, der Mitarbeiter, der in dieser Nacht Telefondienst hatte, hat das bestätigt. Warnholz hat Beatrice gegen 22 Uhr Geld fürs Putzen gegeben, dann ist sie gegangen und kurz darauf hat auch er die Telefonseelsorge verlassen. Er kann Beatrice also gefolgt sein, kann sie vergewaltigt haben – genauso wie zwei Jahre zuvor ihre Freundin Jana.
Arbeitszimmer, Küche, Bad, WC, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Die Räume sind aufgeräumt. Leer. Das Schlafzimmer wirkt spartanisch, auf dem etwa 1,40 m breiten Bett liegt nur eine Decke. Heißt das irgendetwas? Ja. Nein.
»Gehört zu dieser Wohnung ein Keller?«
»Natürlich, ja.«
Warnholz geht voran, durch den Flur ins Treppenhaus, dann eine steile Steintreppe hinab.
»Sie kannten doch sicher Jana Schumacher?« Judith fragt laut. Warnholz ist ihr zu nah. Er weiß zu viel, kennt ihre Schwäche, ihren wunden Punkt. Ich will, dass er unschuldig ist, gesteht sie sich ein. Weil er mir geholfen hat, weil ich ihm anvertraut habe, was sonst niemand weiß.
»Jana?« Er schüttelt den Kopf.
Er lügt, denkt sie. Braunmüller muss von der jungen begabten Solistin gesprochen haben, die so tragisch ums Leben kam. Nacheinander öffnet sie die
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