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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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übernommen haben. Ruhig, Judith, atme, du bist in Sicherheit, alles ist gut. Sie rappelt sich auf, wischt sich den kalten Schweiß von der Stirn, füllt in der Küche ein Glas mit Leitungswasser und trägt es auf ihre Dachterrasse. Die Geräusche der Stadt empfangen sie hier, wie eine lang vermisste Vertraute: entfernter Autoverkehr und dieses konstante Summen, das entsteht, wenn sehr viele Menschen dicht beieinander leben. Das Licht hat sich verändert, inzwischen muss es Nachmittag sein. Der Himmel ist weißgrau, Undefiniert. Die Luft ist kühl und schmeckt nach Nebel.
    Judith geht auf und ab, kleine Schlucke von ihrem Wasser trinkend. Sie versucht zu atmen, einfach nur zu atmen, ohne an eine Zigarette zu denken, ohne an ihren schmerzenden linken Arm zu denken, ohne an irgendetwas zu denken. Sie hat kein Licht gesehen, auch keinen Tunnel, an dessen Ende sie liebende Angehörige erwarteten, in jenem Augenblick, als sie glaubte, sie würde sterben. Sie hat einfach intuitiv verstanden, dass es um etwas anderes geht. Ums Loslassen vielleicht, ums Akzeptieren.
    Ein Bild fällt ihr ein, ein verwackeltes Foto, das ihre Mutter und beide Großelternpaare auf dem Friedhof am Grab ihres Vaters zeigt. Das letzte gemeinsame Foto aus Berlin. Doch Judith ist nicht darauf, sie war nicht dabei, hat dieses Foto als Erwachsene zum ersten Mal gesehen. Warum denkt sie jetzt auf einmal daran? Ihr Vater war 26, als er starb, sie selbst wird in wenigen Monaten 40. Selbst wenn sie in diesem Haus gestorben wäre, hätte sie 14 Jahre länger gelebt als er.
    In ihrem Wohnzimmer ist es zu still, ihre ganze Wohnung ist zu still und auch ihr Handy klingelt nicht. Sechs Stunden sind vergangen, seit sie hier ankam. Sechs lange Stunden. Ich muss etwas essen, denkt sie, wieder zu Kräften kommen, etwas einkaufen, irgendwas. Es sind nur Erinnerungen, sagt sie sich. Ich habe überlebt, zwei andere Menschen sind tot. Ich bin nicht die einzige Polizistin, der so etwas passiert. Sie trägt ihre Reisetasche ins Schlafzimmer, packt sie aus. Ganz unten ist der im Krankenhaus mühselig begonnene Ringelschal, dessen Herstellung die Feinmotorik ihrer lädierten Hand trainieren soll. Daneben steckt die Visitenkarte von Priester Warnholz. Judith trägt das Strickzeug ins Wohnzimmer, wirft die Visitenkarte in den Papierkorb. Der Geschmack des Albtraums haftet hartnäckig auf ihrer Zunge, lässt sich auch mit Zahnpasta und einem weiteren Glas Wasser nicht vertreiben.
    Neben dem Strickzeug liegen ihre Tarotkarten. Judith nimmt sie in die Hand, mischt sie mit geschlossenen Augen, legt sie aus, trifft ihre Wahl, ohne die Augen zu öffnen. Die Prinzessin der Stäbe. Nackt in einer Flamme tanzend, zieht sie einen Tiger hinter sich her. Ein Symbol für den Neubeginn. Ein Symbol für die Furchtlosigkeit. Und die Kommissarin hat Albträume und strickt.
    Judith geht zurück in die Küche, blättert ein weiteres Mal durch ihre Post. Im Ermittlungsverfahren gilt sie nun offiziell als Beschuldigte. »Rein formal und zu deinem eigenen Schutz!«, hat ihr Chef Axel Millstätt auf einen Post-it-Zettel gekritzelt. Sie ruft ihn an, erreicht ihn nicht. Sie versucht es bei Manni, hinterlässt eine Nachricht auf seiner Mobilbox. Es ist zu still in ihrer Wohnung. Die Wände brauchen neue Farbe – vielleicht reicht auch das nicht, vielleicht braucht sie neue Möbel oder sogar eine andere Wohnung. Oder ein neues Leben. Sie sehnt sich nach einer Zigarette. Sogar die Geräusche der Klinik fehlen ihr plötzlich. Das stete Hin und Her von Gesundheitsschuhen, das Geschirrklappern zu den Essenszeiten, die feldwebelartig hervorgestoßenen, keine Reaktion erwartenden Aufmunterungsappelle und Fragen, mit denen das Pflegepersonal zu jeder Tages-und Nachtzeit in ihr Zimmer hetzte. Judith reißt den Brief des Bonner Anwalts aus dem feinen Kuvert. Faltet ihn auseinander, braucht einen Moment, um zu verstehen. Sie hat sich geirrt, es ist kein Angebot zur Strafverteidigung, sondern eine weitaus persönlichere Angelegenheit. Eine Angelegenheit, die bis in ihre Kindheit reicht und die sie längst für abgeschlossen hielt.
    ***
    Sobald die Glastür des Sektionskellers hinter Manni ins Schloss gleitet, verliert er wie immer jegliches Zeitgefühl. Hunger, Müdigkeit, Tageszeiten, Jahreszeiten, all diese sonst so verlässlichen Koordinaten werden hier unten vom Kunstlicht und dem leisen Surren der Klimaanlage verschluckt. Und auch wenn das Opfer auf dem Stahltisch erst wenige Stunden tot ist und die

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