Farben der Schuld
des Angriffs erklären.«
»Oder der Täter war besessen von seiner Idee, das Richtige zu tun«, gibt Ralf Meuser zu bedenken.
»Oder er stand unter Drogen. Lass uns nicht vorschnell von religiösen Motiven ausgehen, Ralf.«
»Ich denke nur nach, beziehe Tatort und Opfer mit ein.« Ralf Meuser kritzelt etwas in sein Notizbuch, wendet seine Aufmerksamkeit dann gleich wieder dem Obduktionstisch zu.
»Warum zum Teufel hat er sich nicht gewehrt?«, fragt Manni nach einer kurzen Pause.
Die Rechtsmedizinerin beugt sich über den halb offenen Mund des Toten und schnuppert.
»Er hatte getrunken.«
»Viel?«
»Das wird erst der Bluttest zeigen.«
Die Petrowa packt die nackte Schulter des Toten, hievt ihn mit Karl-Heinz Müllers Hilfe auf den Bauch. »Das Röntgenbild zeigt eine Fraktur des Schädels. Der Mann ist ungebremst auf den Hinterkopf gefallen.«
»Vielleicht hat der Täter ihn gestoßen.«
Der Blick der Rechtsmedizinerin gleitet über den nackten Körper. »Wenn es so war, gibt es keinen Hinweis darauf.«
»Hat er noch gelebt, als der Täter zustach?«
»Ja.«
»Mit einer Schädelfraktur?«
»Es gibt Patienten, die mit so einer Verletzung zunächst wieder aufstehen und rumlaufen.«
Karl-Heinz Müller grunzt zustimmend. »Ohne Röntgenaufnahme kann selbst ein Arzt solch eine Fraktur nicht immer sofort diagnostizieren.«
»Er muss bewusstlos gewesen sein«, widerspricht Manni stur. »Oder total besoffen.«
Karl-Heinz Müller sieht die Petrowa fragend an, dann wuchtet er den Priester wieder auf den Rücken. Die Petrowa nickt dem Präparator zu, der die Knochensäge näher heranzieht und beinahe liebevoll über den grünen Handschutz der Sägescheibe streicht. Mit geschickten Skalpellschnitten löst die Petrowa die Gesichtshaut des Priesters und zieht sie von seinem Schädel. Wenn die Schnippelei vorbei ist, wird sie sie ihm wieder überstülpen, ihn zusammenflicken in einen halbwegs präsentablen Zustand, damit die Angehörigen hinterher einen einigermaßen erträglichen letzten Anblick genießen können. Hat ein Priester Angehörige? Leben seine Eltern noch? Hat er Geschwister, Nichten, Neffen, Freunde, die ihm nahestehen, oder ist ihm die Gesellschaft Gottes genug?
»Herzinfarkt, Drogen, Alk, Gift, Medikamente«, sagt Manni. »Schaut, ob ihr irgendeine Erklärung dafür findet, warum er sich nicht wehrte. Falls er nach dem Sturz denn wirklich noch bei Bewusstsein war.«
»Genau können wir das postmortal wohl nie mehr feststellen …« Der Rest der Antwort der Russin wird vom nun einsetzenden penetranten Sirren der Knochensäge übertönt, mit der der Präparator den Schädel des Priesters öffnet. Es ist das widerlichste Geräusch, das Manni sich vorstellen kann, ein Gemisch aus Zahnarztbohrer und dem Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel, mit dem sie früher die Mädchen ärgerten. Manni konzentriert sich auf die roten Gummistiefel der Rechtsmedizinerin. Winzige Knochenpartikel tanzen im Licht.
»Vielleicht wollte er sich ja gar nicht wehren«, sagt Ralf Meuser leise, als es endlich vorbei ist.
»Ein bestellter Mord?«, fragt der Staatsanwalt ungläubig.
»Ein Märtyrertod. Für seinen Glauben.«
***
Liebe Judith,
Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Das heißt, ich kannte Sie, als Sie noch ein Kind waren. Kurz nach Ihrer Geburt sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Als Kommilitone und guter Freund Ihres Vaters durfte ich damals erleben, wie Sie laufen lernten und Ihre ersten Worte sprachen. Sie waren der ganze Stolz Ihrer Eltern, das weiß ich noch gut. Leider hat sich die Beziehung Ihrer Eltern ja dann nicht zum Besten entwickelt und Sie wissen natürlich, wie das endete: Ihr Vater zog auf dem Hippietrail nach Nepal, wo er 1969 starb, Ihre Mutter heiratete erneut, Ihr Stiefvater adoptierte Sie.
Ja, das alles ist Jahrzehnte her. Und völlig zu Recht fragen Sie sich jetzt sicherlich auch, warum ich Ihnen schreibe. Die Begründung ist einfach: Wenn nicht ein Wunder geschieht, habe ich nur noch wenige Monate zu leben. Ich ziehe also Bilanz und erkenne dabei sehr deutlich, dass ich Ihrem Vater und Ihnen noch etwas schuldig bin. Wir sind damals zusammen nach Nepal gereist und davon würde ich Ihnen gerne erzählen.
Machen Sie mir die Freude, mich bald in Bonn zu besuchen, Judith. Schlagen Sie meinen Wunsch nicht aus. Ich bitte Sie darum, in alter Verbundenheit, und grüße Sie sehr herzlich,
Ihr Volker Eudes
Judith faltet den Brief zusammen, steckt ihn wieder in sein
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