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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sich der durchaus sportliche Jens Weiß überhaupt nicht gewehrt?
    Der Verkehr in die Innenstadt fließt zäh und gibt Manni so reichlich Zeit, das Gespräch zu überdenken. Schützt Julia Weiß ihre trauernde Mutter oder vielmehr das Bild einer intakten Familie, die so vielleicht gar nicht existierte? Sag deiner Mutter doch endlich, dass du am Wochenende nicht kommst, weil du mit mir verabredet bist, schieb doch nicht immer die Arbeit vor, hat Sonja neulich von ihm gefordert. Ich bin nicht besser als Julia Weiß, gesteht er sich unwillig ein. Wie ein Reflex ist das, schon als Schuljunge habe ich mit aller Macht versucht, Dinge, die Mutter irritieren, möglichst vor ihr zu verbergen. Aber Sonja hat recht, das ist nicht meine Aufgabe. Und geholfen hat Mutter das ohnehin nicht. Mein Vater hat trotzdem zugeschlagen und sie hat das mitgemacht. Hat mir verboten, darüber zu sprechen. Ist bei ihm geblieben. Hat sich nicht gewehrt.
    Manni erspäht eine Lücke auf der linken Spur, zieht scharf herüber, schafft die nächste Ampel noch knapp bei gelb. Bleib jetzt bloß bei der Sache, Alter, fang jetzt nicht noch mit Selbstzerfleischung an, wie sonst Judith Krieger. Er schaltet das Radio ein. Jon Bon Jovi.
It's My Life.
Gut. Er regelt die Lautstärke hoch und trommelt den Takt aufs Lenkrad, erreicht sein Ziel ohne weitere Staus.
    Die Wolkenburg ist heute eine von Kölns Top-Adressen für Feierlichkeiten aller Art, ursprünglich war der graue Steinkomplex ein Kloster, das nun, inmitten der umstehenden Nachkriegsbauten, seltsam deplatziert wirkt. Manni betritt den Innenhof durch ein hohes Gittertor, dickes Mauerwerk dämpft den Innenstadtlärm. Die Frau, die für die Vermietung der Wolkenburg-Säle zuständig ist, sieht übernächtigt aus, prüft seinen Dienstausweis aber dennoch sehr gründlich. Er sichert ihr Diskretion zu, selbstverständlich, so gut es eben geht, was mit einer Portion Charme und einigen Komplimenten zu dem gewünschten Ergebnis führt. Sie händigt ihm die Gästeliste des Ärzteballs aus, nennt ihm die Kontaktdaten der Organisatoren. Bingo, denkt Manni wieder, als er den Namen von Jens Weiß auf der Liste entdeckt.
    Aber es kommt noch besser, viel besser, so gut, dass selbst die Aussicht auf Kühns bevorstehenden Presseauftrieb Mannis Laune nicht trüben kann.
    »Ich gebe Ihnen auch noch die Telefonnummer des Fotografen, der auf dem Ball fotografierte«, flötet die Wolkenburg-Frau. »Vielleicht lohnt es sich ja, dass Sie die Fotos ansehen.«
    Irgendetwas fehlt, irgendetwas hat sie übersehen. Ekaterina Petrowa brüht frischen Tee auf, gibt drei Stück Würfelzucker und einen Zweig frische Minze hinzu, die sie sich bei ihrem gestrigen Einkauf gegönnt hat. Über den Friedhof, auf den sie vom Fenster ihres Arbeitszimmers in der Rechtsmedizin blickt, kriecht bereits die Dämmerung, ein weiterer Tag neigt sich dem Ende zu. Eigentlich wollte sie den Priester, der ja nun gar kein Priester ist, bereits heute Mittag ein weiteres Mal untersuchen. Doch dann kam ein Suizid dazwischen, schon wieder. Man sollte meinen, die meisten Leute bringen sich im Herbst um, wenn die Tage ihr Licht verlieren, oder im Winter, aber so ist es nicht. Ausgerechnet dann, wenn in der Natur mit den ersten Knospen neues Leben erwacht, springen die Leute am häufigsten vor die Bahn, schlitzen sich die Pulsadern auf, vergiften sich, stürzen sich von Brücken oder Dächern. Vielleicht ertragen sie die Hoffnung nicht, überlegt Ekaterina. All die Sehnsüchte und Versprechungen, die so unweigerlich mit dem Frühling verbunden sind, und sich dann so oft doch nicht erfüllen.
    Die Akte der Obduktion des Chirurgen Jens Weiß, den sie bei sich nach wie vor Priester nennt, ist natürlich längst an Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei gegangen, doch eine Kopie hat sie wie immer bei sich behalten. Sie setzt sich an den Schreibtisch, isst ein Stück Kirschplunder und schlürft ihren heißen Tee in kleinen Schlucken, während sie durch den Sektionsbericht blättert. Inzwischen sind auch die ersten Ergebnisse aus der Toxikologie eingetroffen. Auf gut Glück hat sie eine Reihe von Tests zu Drogen und Barbituraten veranlasst. Doch bislang sind alle Ergebnisse negativ, mit Ausnahme des Alkoholtests. 1,1 Promille hatte Jens Weiß beim Eintritt des Todes im Blut. Er war also definitiv angetrunken – doch sicherlich weit davon entfernt, völlig willenlos zu sein oder unfähig sich zu bewegen.
    Warum also hat er sich nicht gewehrt? Er hat keinen Herzinfarkt

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