Farben der Schuld
Wahl.«
»Das sagen Sie? Ein katholischer Priester?«
»Bereuen Sie, was geschehen ist?«
»Ja.«
»Würden Sie es wieder tun?«
»Ich hätte mich entscheiden können zu sterben.«
»Sie sind sehr hart zu sich.«
»Ich bin Polizistin.«
»Für mich sind Sie in erster Linie ein Mensch.«
»Ich wollte das nicht.« Auf einmal laufen ihr Tränen über die Wangen. Tonlose Tränen, die sie nicht aufhalten kann. Judith dreht sich eine Zigarette. Ihr Handgelenk schmerzt, ihre Hände zittern. Sie wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie will raus hier. Weg. Eine rauchen. Und zugleich will sie bleiben, es durchstehen, es zu Ende bringen. Warnholz betrachtet sie. Wartend, ohne zu fordern. Wahrscheinlich ist er weinende Menschen gewöhnt. Wahrscheinlich ist sie nicht die Einzige, die vor seinen Augen zusammenbricht und nach ihrer persönlichen Droge giert. Aus irgendeinem Grund tut ihr diese Erkenntnis gut. Die Erkenntnis und die Tränen, die sich nun, da sie sie einmal zugelassen hat, einfach nicht mehr aufhalten lassen.
»Ich bin übrigens nicht katholisch«, sagt sie nach einer Weile.
Die Andeutung eines Lächelns spielt in Warnholz' Mundwinkeln. »Meine Arbeit als Polizeiseelsorger besteht nicht darin, Sie zu bekehren.«
»Sondern?«
»Ihnen zu helfen. Unabhängig von Ihrer Konfession.«
»Und wenn ich nicht einmal an Gott glaube?«
»Ist es denn so?«
»Wie wollen Sie mir helfen? Was können Sie tun?«
Früher, vorher, hat Judith ihrer Intuition vertraut. Jetzt hat sie plötzlich Probleme damit, ist sich nicht sicher, ob Warnholz' Freundlichkeit echt ist oder nur gespielt. Kann sie ihm vertrauen, ist er, wer er vorgibt zu sein? Sie versucht in seinen dunklen Augen zu lesen, findet keine Antwort darin.
»Ich kann Ihnen die Angst nicht nehmen.« Ruhig, scheinbar ganz offen, erwidert er ihren Blick. »Und auch nicht Ihre Erinnerungen. Aber ich kann mit Ihnen üben, damit zu leben. Sie auszuhalten. Nicht mehr so ausgeliefert zu sein.«
»Wie soll das gehen?«
»Sie brauchen Vertrauen. Sie müssen sich Zeit geben. Und Sie müssen bereit sein, das, was Sie erlebt haben, gemeinsam mit mir noch einmal zu betrachten.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Sie sind nicht allein. Ich würde Sie begleiten.«
»Es läuft ein Verfahren gegen mich, wegen Totschlags. Das ist zunächst mal nur eine Formalität, das normale Procedere, wie nach jedem dienstlichen Schusswaffengebrauch.«
»Ja.«
»Wenn wir uns weiterhin treffen und Sie mir helfen – ich möchte nicht, dass irgendjemand im Polizeipräsidium davon erfährt.«
»Wir müssen uns nicht in meinem Büro im Präsidium treffen, Sie können auch in meine Dienstwohnung kommen. Oder wir gehen spazieren, treffen uns in einem Café – ganz wie Sie wollen. Und davon abgesehen: Als Seelsorger unterliege ich dem Zeugnisverweigerungsrecht.«
»Paragraph 53 der Strafprozessordnung, ja«, sagt Judith. »Die Frage ist nur, wie ernst Sie den nehmen und wer Zugriff auf Ihre Unterlagen hat.«
»Niemand, der sich mir anvertraut, muss fürchten, dass ich ihn verrate.«
»Egal was passiert?«
»Ich werde schweigen«, sagt Hartmut Warnholz. »Unter allen Umständen. Ja.«
***
Die Wohnküche der Familie Weiß wirkt unverändert fröhlich und hell, der Blick durch die Glasflügeltür offenbart bei Tageslicht, dass der Garten hinter dem aufwendig sanierten Altbauhaus eine echte Stadtoase ist. Mittelpunkt ist ein schön gepflasterter Platz unter einem urigen Baum. Ein verwitterter Holztisch, Stühle, Windlichter, eine Feuerstelle und die Halterung eines Sonnenschirms deuten darauf hin, dass dies vermutlich der sommerliche Lieblingsort der Familie ist. Einer Bilderbuchfamilie, wie es den Anschein hat, über deren Leben nun eine Katastrophe hereingebrochen ist.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragt Julia Weiß. Noch in der Nacht sei sie aus München angereist, um ihre Mutter zu unterstützen, hat sie Manni erklärt, während sie ihn in die Wohnküche führte, wo die Chirurgenwitwe Nora Weiß eine Teetasse festhält und wirkt, als habe sie sich nicht vom Fleck bewegt, seit Manni sich gestern verabschiedet hat.
Er setzt sich den beiden Frauen gegenüber. Eine Porzellantasse steht schon für ihn bereit.
»Ja, gern«, beantwortet er Julia Weiß' Frage und hält ihr brav die Tasse hin. Grüner Tee. Man kann das trinken, so viel hat er dank Sonja inzwischen akzeptiert. Schmecken tut die Plörre jedoch eher nicht, aber er wird den Teufel tun, jetzt und hier
Weitere Kostenlose Bücher