Farben der Schuld
oder Schlaganfall erlitten, wurde nicht vergiftet. Und auch wenn sie das nicht beweisen kann, vermutet sie, dass er durch die leichte Fraktur am Hinterkopf nicht bewusstlos war. Ekaterina schiebt den letzten Bissen des Blätterteiggebäcks in den Mund, wirft die Papiertüte in den Abfalleimer und tritt an das Handwaschbecken, das sich praktischerweise in einer Nische ihres Arbeitszimmers befindet. Von ihrem eigenen Geld hat sie vor zwei Wochen noch einen hübschen Spiegelschrank mit extra Schminkspiegel und Beleuchtung gekauft, der exakt in diese Ecke passt. Eine mutige Investition, schließlich befindet sie sich noch immer in der Probezeit. Aber das Schränkchen war ein Sonderangebot und seit es hier hängt, ist sie endlich nicht mehr auf die funzelig-grünliche Beleuchtung in den Waschräumen angewiesen. Sie konnte einfach nicht widerstehen, und der Hausmeister war so nett, ihr den Schrank an die Wand zu dübeln.
Warum hat Jens Weiß sich nicht gewehrt? Ekaterina wäscht sich die Hände, cremt sie mit einer nach Lilien duftenden Handlotion ein und überprüft ihr Make-up. Sie weiß, dass ihre Kolleginnen die Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres verwendet, befremdlich finden, zumal ja die wenigsten ihrer Patienten noch leben. Aber Make-up und schicke Kleidung sind ein Luxus, auf den sie lange verzichten musste, stilvolles Auftreten kann niemals schaden und davon abgesehen, wer kann schon sagen, was die Seelen der Toten bemerken?
Hellrosa Lippenstift hat sie heute gewählt, passend zu ihrem weißen Pullover, auf dem Pailletten funkeln, wie die tief stehende Wintersonne im Schnee der russischen Taiga. Ekaterina starrt sich in die dunkelbraunen Augen. Wann wird sie ihre Großmutter wiedersehen und Prirechnij, das Dorf am See, in dem sie aufgewachsen ist? Sie schließt die Augen, glaubt die erhabene Stille der Taiga zu hören und das leise Ächzen der Birken. Sie öffnet die Augen wieder, schüttelt den Kopf. Die ersten Wochen in Köln haben die Erinnerungen zurückgebracht, nicht nur an die Landschaft ihrer Kindheit, auch an die alte Sprache und das Wissen der Großmutter. Schamanenwissen. Ekaterina wollte damit nichts zu tun haben, sie wollte Ärztin sein, immer schon, Wissenschaftlerin, modern, keine Schamanin, die ihre Erkenntnisse aus der tranceartigen Kommunikation mit irgendwelchen Geistern gewinnt, oder schlicht und einfach aus Intuition. Lange hatte sie sich in Deutschland sicher gefühlt, weit genug entfernt von der Geisterwelt. Doch seit sie in Köln ist, hat sie zu akzeptieren begonnen, dass das alte Wissen trotzdem in ihr ist, auch wenn sie das so gut es irgend geht vor den Kollegen verbirgt. Und mit der Akzeptanz ist die Sehnsucht zurückgekommen. Die Sehnsucht nach Russland, den Abenden in der Kate, dem Feuer, dem Schnee und natürlich nach ihrer Großmutter.
Alles hat seine Zeit, es nutzt nichts, sich woanders hin zu wünschen. Ekaterina löscht das Licht über dem Spiegel, nimmt den Sektionsbericht und geht durch das Treppenhaus hinunter zum Leichenkeller. Das leise Brummen der Kühlaggregate begrüßt sie. Sie streift einen Kittel über und zieht den Stahlschlitten mit Jens Weiß aus dem Wandfach, wuchtet ihn auf eine Rollbahre. Niemand ihrer Kollegen ist hier, auch nebenan im Obduktionsraum ist sie allein. Sie ist zu klein, um den Toten auf einen der Untersuchungstische zu hieven. Also rollt sie ihn einfach so nah wie möglich unter das Licht der OP-Strahler. Was ist in den letzten Minuten seines Lebens geschehen?
Noch einmal untersucht sie ihn, Zentimeter um Zentimeter. Doch sosehr sie sich auch anstrengt, findet sie nichts, was auf eine Abwehrverletzung hindeutet, keinen noch so kleinen Schnitt, nicht den Hauch eines Hämatoms.
Langsam, hoch konzentriert tastet Ekaterina über den kalten Körper. Jens Weiß hatte Angst, weiß sie plötzlich. Entsetzliche Angst. Er wollte sich wehren, und konnte es nicht. Er war wie gelähmt. Aber auch wenn sie sicher ist, dass es so war, beantwortet das immer noch nicht ihre wichtigste Frage: Warum?
***
Endlich, das Telefon! Ruth Sollner reißt den Hörer ans Ohr. Sie hat nicht geschlafen, konnte nicht schlafen, obwohl sie nach der Nachtschicht in der Telefonseelsorge todmüde war. Trotzdem war sie unfähig, Ruhe zu finden. Lag Stunde um Stunde in ihrem Bett, ihren sich jagenden Gedanken ausgeliefert. Wartend, bangend …
»Was kann ich für dich tun, Ruth?« Seine Stimme ist warm und ganz nah.
Sie setzt sich im Bett auf, zieht sich die Decke hoch bis zum
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