Farben der Schuld
Extrawünsche zu formulieren. Vertrauensbildung ist die angesagte Strategie, weil er gleich anfangen wird, die weißsche Intimsphäre zu sezieren. Er mustert die Frauen, die ihm gegenüber am Küchentisch sitzen. Dieselbe leichte Bräune, dieselbe praktische Kurzhaarfrisur, dieselbe schlanke Figur, dieselben verheulten Augen. Ein Bollwerk der Trauer, Seite an Seite. Augenärztin mit eigener Praxis die eine, Studentin der Medizin die andere.
»Wir haben Isabel noch nicht informiert«, flüstert Nora Weiß heiser. »Sie ist für ein Austauschschuljahr in Australien. Es geht ihr so gut dort, und sie ist erst siebzehn. Ich kann doch nicht einfach in Sydney anrufen und sagen, Isabel, Liebes, du musst mal kurz heimfliegen, dein Vater ist …«
Sie bricht ab, presst ein durchnässtes Taschentuch auf Mund und Nase.
»Ich ruf Isa nachher an, Mama, mach dir darum jetzt keine Sorgen.« Julia, ganz Vorzeigetochter, streichelt ihrer Mutter den Arm.
»Es ist sicher besser, auch Ihre jüngere Tochter bald zu informieren«, sagt Manni und denkt an seine eigene Mutter, die nach dem Tod seines Vaters nicht fähig war ihn anzurufen oder überhaupt irgendetwas zu tun oder zu sagen. Er räuspert sich, trinkt einen Schluck grüne Plörre. Gruselig. Ein Aroma aus alten Socken und Gras. Kaum vorstellbar, dass dies das japanische Nationalgetränk ist, das Zenmeistern wie Normalbürgern angeblich ein langes, gesundes Leben beschert. Er stellt die Tasse ab und klaubt seinen Notizblock aus der Jackentasche.
»Frau Weiß, Ihr Mann war kostümiert, hatte also offensichtlich eine Karnevalsparty besucht. Wissen Sie zufällig, wo?«
»Ja, natürlich.« Ihre Stimme ist immer noch heiser und sie spricht durch die Nase. »Jens war wie jedes Jahr auf dem Ärzteball in der Wolkenburg.«
Bingo! Eine nicht öffentliche Veranstaltung. Gar nicht so weit von Sankt Pantaleon entfernt. Manni beherrscht seine Gesichtszüge, gestattet sich nicht einmal die Andeutung eines zufriedenen Grinsens. Ärzteball, Kollegen – das offenbart Stoff für eine ganze Reihe von denkbaren Motiven, die alle nichts mit einem von Römern gejagten Heiligen zu tun haben, der sich für seinen Glauben anstelle eines Priesters enthaupten ließ.
»Er war also auf dem Ärzteball«, sagt er langsam. »Allein?«
»Ich nehme an, mit Kollegen aus der Klinik.«
»Und nach dem Ball machte er einen Abstecher zu Sankt Pantaleon. Warum?«
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er wollte zu Fuß nach Klettenberg gehen und kam da vorbei.«
»Er ging aber in den Park hinein, zum Seiteneingang der Kirche.«
Hilflos sieht Nora Weiß Manni an. »Wenn Sie das sagen.«
»War er allein?«
»Wahrscheinlich schon.« Sie bricht ab. »Ich weiß es nicht.«
»Warum ist er zur Kirche gegangen, was glauben Sie?« Dieselbe Frage wie in der Nacht zuvor. Dieselbe Ratlosigkeit in Nora Weiß' Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Er läuft gern, und ein Taxi ist ja an Karneval schwer zu kriegen. Vielleicht musste er mal. Vielleicht hat er an der Kirche irgendwas bemerkt und wollte nach dem Rechten sehen.«
Gar keine schlechte Idee. Manni macht sich eine Notiz. Sie müssen überprüfen, wie es sich mit den Sichtverhältnissen vom Eingangstor des Kirchgeländes aus in den Park verhält.
»Lief gern!« Nora Weiß schluchzt plötzlich auf, reißt sich die Brille von der Nase und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. »Ich schaffe das nicht«, flüstert sie. »Ich begreife das nicht. Wir waren doch glücklich zusammen, wir hatten doch noch so viele Pläne.«
»Es tut mir sehr leid«, sagt Manni. »Aber ich muss Ihnen trotzdem einige Fragen stellen.« Wie oft hat er diese Formulierung schon verwendet? Unzählige Male. Doch auch wenn die Worte routiniert über seine Lippen kommen, wird es nicht leichter. Weil es nur Floskeln sind, schwerlich dazu geeignet zu trösten oder die Hilflosigkeit zu kaschieren, die einen unweigerlich befällt, wenn man vor verzweifelten Angehörigen sitzt.
»Entschuldigen Sie.« Nora Weiß putzt sich die Nase. Fast unmerklich rückt ihre Tochter noch ein Stück näher zu ihr. Vorsicht, warnen ihre rot geheulten Augen Manni stumm. Pass auf, was du sagst, komm meiner Mutter nicht zu nah.
Kinder, die ihre Eltern beschützen. Das sollte doch eigentlich umgekehrt sein, solange die Eltern noch nicht völlig gebrechlich sind, hat Sonja neulich gesagt, als Mannis Mutter zum dritten Mal am selben Abend mit einem Anruf nervte und er trotzdem freundlich geblieben war, um sie nicht
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