Farben der Schuld
Kinn, sorgfältig darauf achtend, den Hörer nicht loszulassen. Sie hat sich Sorgen um Hartmut Warnholz gemacht, sonst ruft er immer so zeitnah zurück und nun hat es den ganzen Tag gedauert und die Nacht zuvor, und sie konnte doch nicht ständig wieder hinter ihm hertelefonieren wie ein verliebtes Schulmädchen, schließlich ist er ein Priester. So viele Menschen wollen etwas von ihm, so vielen muss er mit Rat und Tat zur Seite stehen.
»Es ist wegen Beatrice«, flüstert sie, nur für den Fall, dass ihre wie ein Stein in ihrem Zimmer schlafende Tochter plötzlich erwacht und sie durch die verschlossene Zimmertür hört.
»Hat sie sich wieder betrunken?«, fragt Hartmut Warnholz. Sachlich, ohne jegliche Wertung. So wie er es auch in den Supervisionsrunden in der Telefonseelsorge tut.
»Ja. Nein. – Ich weiß es nicht. Sie hat erbrochen …«
Der ganze Flur war verschmutzt, die hübschen Mohnblüten, die Ruth erst vor ein paar Tagen an die Wand neben der Garderobe geklebt hatte, sind besudelt. Sie wird die Wand neu streichen, neues Blumendekor kann sie sich vorerst nicht leisten, und auch der Stoffläufer ist nicht zu retten. Glühend vor Wut und zugleich wie benommen ist Ruth an der Sauerei vorbeigestolpert und hat nach Beatrice gerufen. Sie war so aufgebracht, aber dann, als sie ihre Tochter in der Badewanne sah, kurz davor, mit dem Kopf unter Wasser zu sinken …
»Ich mache mir solche Sorgen«, flüstert Ruth in den Hörer. »Sie sagt, sie hätte nicht getrunken, aber der Geruch …«
Stopp, mahnt sie sich. Mit solchen unappetitlichen Details kannst du Hartmut Warnholz unmöglich auch noch belasten.
»Ich komme einfach nicht mehr an sie ran. Egal, wie ich es auch versuche, ich erreiche sie nicht.«
Ruth beginnt wieder zu zittern, die Wärme, die mit Hartmut Warnholz' Stimme zu ihr unter die Bettdecke drang, verfliegt. Ich dachte, sie sei tot, als ich sie so in der Wanne sah, gesteht sie sich endlich ein. Ich dachte, sie hätte sich umgebracht.
»Soll ich einmal mit ihr sprechen?«, fragt der Supervisor.
»Ich weiß nicht, ob das etwas bringt…«
»Ich könnte es versuchen. Ich habe ja ein bisschen Erfahrung mit Jugendlichen durch meine frühere Arbeit in der Gemeinde.«
»Ja, natürlich. Natürlich. Daran habe ich gerade gar nicht gedacht.«
»Ich kann nichts versprechen. Aber zumindest könnte ich mir dann selbst ein Bild machen. Und vielleicht habe ich ja eine Idee …«
Das Zittern lässt ein wenig nach, die Wärme kommt zu rück. Ruth kuschelt sich unter die Decke, den Telefonhörer noch immer fest in der Hand.
Morgen Nachmittag wird er sie besuchen. Hoffentlich ist Beatrice dann hier und ansprechbar. Ich werde einen Kuchen backen, denkt sie. Nein, vielleicht ist das zu feierlich und zu opulent in der Fastenzeit, lieber ein paar Plätzchen. Plätzchen, ja. Der Gedanke, etwas anpacken zu können, tut ihr gut. Sie zieht ihren Morgenmantel über, nickt ihrem Spiegelbild über dem Frisiertisch aufmunternd zu. Der ermordete Priester war gar kein Priester, hat Hartmut Warnholz gesagt. Von ihrer Angst um ihn und dem seltsamen Drohanruf in der Telefonseelsorge hat sie ihm daraufhin gar nichts mehr erzählt. Die Anrufer gehen eben auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit ihrem Kummer um. Einige sprudeln sofort los, manche verstummen, andere sind erst einmal aggressiv. Ich habe heute Nacht die Distanz verloren, denkt sie. Ich war überreizt durch den Streit mit Beatrice, nicht mehr professionell, jetzt, durch das Gespräch mit Hartmut Warnholz, kann ich das wieder sehen. Eine gute Nacht hat er ihr gewünscht, mit seiner tiefen, warmen Stimme. Schlafe wohl.
Der Flur riecht immer noch leicht säuerlich, obwohl sie den Läufer gleich eingeweicht und Wand und Boden mehrmals geschrubbt hat. Aus Beatrice' Zimmer dringen die Atemzüge ihrer schlafenden Tochter. Ruth wärmt in der Küche eine Dose Tomatensuppe auf und bestreicht zwei Scheiben Knäckebrot mit Frischkäse. Sie isst am Küchentisch, nimmt jedes Geräusch überdeutlich wahr. Das Kauen des Knäckebrots, das Gluckern in ihrem Magen, das Rauschen der Heizung, das Knistern, wenn sie eine Seite des Versandhauskatalogs umblättert. Der Heinekatalog ist noch immer der Schönste, immer studiert sie ihn am längsten, auch wenn die Produkte, die dort vorgestellt werden, teurer sind als bei Otto und Quelle und Tchibo, wo es auch manchmal richtig schöne Dinge gibt.
Ruth seufzt, weil Beatrice wieder einmal schneller war als sie, einige der hübschen
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