Farben der Schuld
Models sind mit Punkfrisuren und klobigen schwarzen Stiefeln beschmiert. Mutters blöde Katalogkitschwelt! Beinahe glaubt Ruth, Beatrice' zynisches Lachen zu hören. Sie schlägt den Katalog zu, hat plötzlich keinen Appetit mehr auf den Rest der Suppe. Es hätte anders sein sollen, ihr Leben. Abende zu dritt mit Spielen und Gesprächen hatte sie sich gewünscht, als Bea zur Welt kam. Dann später mehr Zeit zu zweit mit Stefan. Sie hätten mal ausgehen können, ins Theater oder Kino, oder einen Film im Fernsehen ansehen und dazu ein Glas Wein trinken und Salzgebäck knabbern. Nicht zu viel natürlich, weil das auf die Linie schlägt, nur hin und wieder, nach einem anstrengenden Tag. Sie hatte an ihre Familie geglaubt, an die Kraft der Liebe, an ihre Ehe. Sie hatte der Scheidung nicht zustimmen wollen, doch Stefan hatte sich durchgesetzt. Er wollte keine Eheberatung, keine Mediation, keine zweite Chance. Weg wollte er, einfach nur weg von ihr, in ein neues Leben, mit einer neuen Frau und zwei neuen Kindern.
Damals hatte Ruth bereits in der Telefonseelsorge angefangen, stundenweise zunächst. In der Zeit der Trennung, wurde die Arbeit dort überlebenswichtig, zumal sie in ihrem alten Beruf als Sekretärin nicht wieder richtig Fuß fassen konnte. Sie war einfach zu lange raus, konnte ja auch wegen Bea nur halbtags arbeiten, damals ging sie ja noch zur Schule. In keiner der Anstellungen, die ihr das Arbeitsamt vermittelte, konnte Ruth sich halten. Aber in der Seelsorge, da war sie gut. Hier konnte sie zeigen, was wirklich in ihr steckte. Und außerdem war es richtig, anderen zu helfen, denen es noch schlechter ging als ihr. Die damalige Leiterin der Seelsorge hatte Ruth sehr genau geprüft und sie sorgfältig ausgebildet. Die regelmäßige Supervision bei Hartmut Warnholz half Ruth nun auch, den Schmerz wegen der Trennung von Stefan und die Wut auf ihn aus den Beratungsgesprächen herauszuhalten. Sie war trotzdem vorsichtig, erzählte so wenig wie möglich von ihren privaten Sorgen, denn schließlich, wie passt eine geschiedene Frau in eine katholische Seelsorgeeinrichtung? Doch nach und nach begann sie Hartmut Warnholz zu vertrauen, und weder er noch die damalige Leiterin der Telefonseelsorge hatten ihr nahegelegt zu gehen, im Gegenteil, sie begann sogar auf eine Festanstellung im Sekretariat der Seelsorge zu hoffen, falls dort einmal eine Stelle frei würde. Und auch die anderen blieben freundlich zu ihr, wurden zu ihrem Halt, ja beinahe zu ihrer Familie.
Und jetzt, wie ist das jetzt? Ruth schüttet den Rest der Suppe von ihrem Teller in den Ausguss, auch wenn sie wegen dieser Verschwendung ein schlechtes Gewissen hat. Jetzt, mit dem neuen Leiter Georg Röttgen ist sie nicht mehr so sicher, ob sie in der Telefonseelsorge noch gern gesehen ist, auch wenn Röttgen offenbar ein Vertrauter von Hartmut Warnholz ist. Er kontrolliert mich, er kontrolliert uns alle, denkt sie. Schnüffelt in unseren Personalakten und Berichten herum, spioniert uns hinterher. Ein Zweihundertprozentiger, hat Marianne ihr vor ein paar Tagen zugeflüstert. Wenn das so weitergeht, kündige ich, bevor er einen Grund findet, mich rauszuschmeißen.
Ruth schleicht über den Flur in Beatrice' Zimmer. Wie brutal die schwarze Wandfarbe wirkt. Bea hatte sie natürlich nicht um Erlaubnis gebeten, sondern war einfach zur Tat geschritten. Mit Hilfe ihres Freundes Fabian, der damals gerade eine Lehre in einem Malerbetrieb begonnen hatte. Und dann der blutrote Veloursteppich mit den Brandlöchern und Flecken. Und die Poster von Fledermäusen, Spukschlössern und düsteren Moorlandschaften. Aber am schrecklichsten ist das mit schwarzem Samt gerahmte Foto von Jana in dem Kranz roter Grablichter auf der Kommode. Jedes Mal, wenn Ruth es sieht, schaudert sie, weil Beas Zimmer dadurch wirkt, als sei es ein Totenschrein.
Beatrice stöhnt im Schlaf, wälzt sich auf die Seite.
»Nein«, nuschelt sie. »Nein. Nein.«
Auf Zehenspitzen schleicht Ruth zu ihr, tupft ihrer Tochter mit einem sauberen Taschentuch den Schweiß von der Stirn, deckt sie wieder zu. Was ist ihr passiert in der letzten Nacht? War es wirklich richtig, keinen Arzt zu rufen, sondern Beas Beteuerungen zu glauben, sie habe sich nur den Magen verdorben? Sie hat sich betrunken, denkt Ruth resigniert. Vielleicht wegen Jana, vielleicht, weil sie mit all ihren bleichhäutigen, schwarz gekleideten Freunden mal wieder den nahenden Weltuntergang heraufbeschworen hat. Immer findet sie einen Grund, um zu
Weitere Kostenlose Bücher