Farben der Schuld
Dai ist es dies. Aber die Bassai Dai hat Manni bereits bei der ersten Dan-Prüfung vorgeführt, sie fasziniert ihn nicht mehr, er will weiter, will mehr. Trotzdem gehorcht er dem Befehl der Trainerin. Atmen, das Ziel fixieren, den imaginären Gegner treffen, zurück in den Stand, drehen, blocken, weiter. Er gibt noch mehr Gas, als Margarete sich nähert, legt alle Kraft in die Blocktechnik, holt sofort aus zum nächsten Schlag. Sie stoppt ihn, deutet eine Verneigung an.
»Welcher Dan?«
»Erster.«
»Und jetzt willst du den zweiten.«
»Ja, klar. Und du?«
Sie nickt unmerklich, als habe sie mit einer Respektlosigkeit gerechnet.
»Das wird so nicht klappen.«
»Wie bitte?« Er starrt sie an.
»Du willst es erzwingen, bemühst dich zu sehr. So funktioniert das nicht.«
Sie deutet eine Verbeugung an, stellt sich wieder vor die Klasse.
»Bassai Dai. Eine der ältesten Katas. Eine Kata der Gegensätze. Entspannung und Spannung, ein steter Wechsel. Jede Technik kommt aus eurer Mitte heraus. Wie eine Welle. Das will ich sehen.«
Und dann legt sie los und auch wenn ihn das nervt, sieht Manni sofort, wie gut sie ist. Wie sie ihren Körper spannt, ihre Kraft dosiert, niemals ihren Schwerpunkt zu sehr in eine Richtung verlagert, bis sich die enorme Spannkraft ihres Körpers bei den Schlag-und Tritttechniken in unglaublich präzisen Explosionen entlädt.
Er nimmt diese Bilder mit und die Gedanken an die Bedeutung der
Bassai Dai.
Die Mauer zerstören, die Festung erobern. Die Kraft kommt aus dem Boden. Wer seine Standfestigkeit verliert, hat schon verloren, das hat Margarete eindrücklich demonstriert. Manni lenkt seinen GTI in die Südstadt, hält bei Sankt Pantaleon, läuft in den Park auf die beleuchtete Kirche zu. Jetzt ist er allein hier, und auch die Schatten der Kriminaltechniker an der Kirchenwand existieren nur als Schemen in seiner Erinnerung. Schattenkämpfe. Er macht kehrt, fährt zu Sonjas Viertel, wo er sogar einen halbwegs legalen Parkplatz ergattert.
Und jetzt? Sonjas Wohnung ist dunkel. Warum wartet sie nicht auf ihn? Auf einmal hat er keine Lust mehr, ihren Wohnungsschlüssel zu benutzen. Kauft sich an einem Kiosk eine Flasche Bier, trinkt sie im Stehen, an seinen Wagen gelehnt. Die Festung erobern. Den Gegner bezwingen. Das Gleichgewicht nicht verlieren. Das ist nichts anderes als in jeder verdammten Ermittlung. Manni wirft die leere Bierflasche auf den Rücksitz zu seiner Sporttasche und startet den Wagen. Morgen, denkt er. Morgen ist auch noch ein Tag.
Sie müsste Angst haben, mehr Angst, hier, allein unter freiem Himmel am Rhein, mitten in der Nacht. Aber so ist es nicht. Es sind vor allem geschlossene Räume, die die Erinnerungen heraufbeschwören. Geschlossene Räume und die Stille in ihrer Wohnung, wenn die Stadt ruhiger wird, dunkler, und die Bilder die Macht übernehmen, greller dann, härter.
Judith verlässt die Promenade hinter den neuen Hightech-Luxusgebäuden am Rheinauhafen, wählt einen Trampelpfad hinunter zum Fluss. Feuchte Luft legt sich wie ein Schleier auf ihr Gesicht, beinahe wie ein Streicheln. Sie verlangsamt ihr Tempo, ihr Atem geht freier. Die Erinnerung ist eine Reaktion auf das, was war. Erlebnisse werden im Kopf zu biochemischen Prozessen, verschiedene Hirnregionen sind daran beteiligt. Doch wirklich verlässlich ist die Erinnerung nicht. Amygdala – Mandelkern – heißt die winzige Stelle im Hirn, in der alle Erlebnisse emotional bewertet werden: Angst. Freude. Wut. Die Amygdala ist wie eine Art Filter. Was in ihr keine Reaktion auslöst, wird schnell wieder vergessen. Was sie überreizt, führt fortan zu einer Verzerrung der Wahrnehmung, einer falschen Realität. Unbewusstes Gedächtnis sagen Psychologen dazu. Unbewusst, nicht willentlich steuerbar. Und wenn man Pech hat: defekt. Erschüttert. Traumatisiert.
Judith dreht sich eine Zigarette, lehnt sich an einen Bootsanleger, sieht eine Weile den Positionsleuchten der Schiffe zu, die auf dem Weg nach Süden an ihr vorbeigleiten, oder in umgekehrter Richtung zum Meer. Am Nachmittag hat sie sich einen Bildband über Nepal gekauft. Langsam, sehr genau, hat sie jedes Bild studiert und sich vorzustellen versucht, was ihr Vater in diesem unglaublich kargen, erhabenen Land mit den unzähligen Tempeln gesucht hat. Ob er glücklich war dort, angekommen, davon überzeugt, es habe sich gelohnt, für diese Fremde sein deutsches Leben aufgegeben zu haben und seine Familie?
Egotrip – so hat Judiths Mutter die Nepalreise stets
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