Farben der Schuld
bezeichnet, wenn überhaupt davon die Rede war, und Judith hatte sich immer ein langhaariges, lumpiges, bekifftes Ebenbild des Mannes vorgestellt, dessen Foto in ihrer Küche hängt. Aber vielleicht war es anders, denkt sie nun. Vielleicht war das ein Trugbild, so oft heraufbeschworen, dass es sich beinahe wie eine Erinnerung anfühlt, dabei war es niemals real.
Ich werde diesen Volker Ludes anrufen, beschließt sie. Ich werde ihn treffen. Seine Version der Nepalgeschichte hören. Und ich werde Millstätt davon überzeugen, dass ich gesund genug bin, zumindest für halbe Tage wieder zu arbeiten. Ich werde das schaffen. Es wird schon gehen.
Sie läuft zurück in die Südstadt, fühlt sich für ein paar wunderbare Minuten ganz ruhig, wie befreit, und erreicht kurze Zeit später Sankt Pantaleon. Der Weg in den Kirchenpark ist nicht abgesperrt, auch von einer Polizeistreife ist nichts zu sehen. Ist der Priestermord schon gelöst, wird sie selbst damit nichts mehr zu tun haben? Zögernd betritt Judith den Park, die Sohlen ihrer Sportschuhe quietschen leise auf dem nassen Pflaster. Noch immer ist sie allein, die Fassade der Kirche leuchtet im Scheinwerferlicht, die kahlen Kronen der Bäume neben den Türmen wirken wie Schattenrisse, der Mond steht dahinter. Nichts deutet auf das Verbrechen hin, das hier geschehen ist.
Die Panik kommt so plötzlich, dass Judith beinahe aufschreit. Das Gefühl von Gefahr – Erinnerung, Warnung, sie weiß nicht, was es ist. Ruhig, Judith, atme. Du bist allein hier. Es gibt keine Gefahr. Sie zwingt sich stehen zu bleiben, ballt die Fäuste in den Manteltaschen. Fast sofort jagt der Schmerz in ihr linkes Handgelenk.
Sie will keine Tabletten mehr nehmen, sie will kein Psycho-wrack sein, sie wird das schaffen. Langsam setzt sie sich wieder in Bewegung, zurück zu ihrer Wohnung, kauft unterwegs noch zwei Flaschen Bier. Ihre Beine sind sehr schwer, ihre linke Hand tut noch immer weh. Sie schließt die Haustür auf, schaltet das Licht im Treppenhaus an und nimmt die ersten Stufen in Angriff. Zweiter Stock, weiter, nicht das Gleichgewicht verlieren, dritter Stock, komm schon, gleich hast du's, gib jetzt nicht auf. Das Licht im Treppenhaus flackert, erlischt, eine Tür fliegt auf. Terpentingeruch. Etwas gluckert…
Benzin. Das Haus. Judiths Knie geben nach, ihre Hände zittern, sind plötzlich kraftlos, können die Bierflaschen nicht mehr halten. Glas splittert, klirrt. Wie gelähmt steht Judith da. Und dann wird es wieder hell, und ein Mann kommt auf sie zu, berührt ihren Arm.
»Hallo? Ist alles in Ordnung?«
FASS MICH NICHT AN! Sie will schreien, sich wehren und kann es nicht.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Es riecht nach Farbe, nicht nach Benzin. Judiths Zähne klappern.
»Ich heiße Karl Hofer, ich wohne hier seit ein paar Wochen. Ich wollte gerade runter zur Mülltonne gehen«, er deutet auf ein Bündel farbverschmierter Plastikplanen, das mitten in einer Bierpfütze liegt. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Schon gut. Ich bin gestolpert. Ich – ich hol einen Lappen.«
»Setzen Sie sich lieber hin, Sie sind ganz blass.«
Ist das emotionale Gleichgewicht der Amygdala erst einmal gestört, kann das zu Fehlverhalten führen. Panik aus nichtigem Anlass, genau so, als sei die Gefahr real. Forscher haben Menschenaffen die Amygdala wegoperiert und im Labor wirkten die Tiere danach scheinbar ganz normal. Doch in freier Wild bahn konnten sie nicht mehr mit ihren Artgenossen kommunizieren. Mieden sie, so gut es ging. Ohne ihr emotionales Gedächtnis waren sie unfähig, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.
»Hier, trinken Sie.«
Judith hat kaum registriert, dass ihr neuer Nachbar in seiner Wohnung verschwunden war. Nun steht er wieder vor ihr, hält zwei Schnapsgläser in der linken Hand, schenkt Cognac ein, prostet ihr zu. Sie kippt den Alkohol herunter, akzeptiert, dass Karl Hofer ihr nachschenkt. Der Cognac brennt in ihrem Magen, wärmt sie, ihr Zittern lässt nach.
»Bleiben Sie sitzen, ich wisch das schnell weg.«
Sie gehorcht, leert ihr Glas ein zweites Mal, stellt es neben sich auf die Stufe und dreht sich eine Zigarette.
»Es ist zwar nach Mitternacht, aber ich habe gerade Pasta gekocht, haben Sie Lust, mit mir zu essen?«, fragt Karl Hofer, nachdem er Bier und Scherben beseitigt hat.
»Essen?«
»Sie sehen so aus, als könnten Sie was vertragen.«
Sie versucht in sich irgendein Warnsignal zu erkennen, während sie ihren Nachbarn mustert. Aber da ist
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