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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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nichts, gar nichts, nur das Wissen um diese Bilder in ihrem Kopf, und ihre eigene Wohnung ist dunkel und leer.
    Judith drückt ihre Zigarette aus. »Danke«, sagt sie. »Gern.«
Freitag, 24. Februar
    Es wird gerade erst hell, und Bat fühlt sich immer noch etwas benommen, was eigentlich nicht sein kann, denn sie hat achtzehn Stunden lang geschlafen, so lange wie schon ewig nicht mehr. Was genau ist in der Nacht davor geschehen? Sie weiß es nicht, kann sich nur vage erinnern. Ihr war schlecht, rattenschlecht, sie hat gekotzt, sie hatte Schmerzen, dann lag sie plötzlich in der Badewanne und ihre Mutter hat rumgeschrien. Albträume, sie hat Albträume gehabt, später, in ihrem Zimmer. Sie hat sich im Traum in Jana verwandelt, die tote Jana, die in ihrem Grab lag und trotzdem lebendig war.
    Bat trinkt einen Schluck Kakao und presst ihre Stirn ans Fenster der Straßenbahn. Sie hat sich wirklich gehen lassen in den letzten Tagen, hat zu viel gesoffen, wegen Janas Geburtstag, war wie besessen von ihr, weil sie sie einfach so furchtbar vermisst. Alles kam wieder hoch, als wäre Jana erst gestern gestorben, dabei ist das inzwischen schon zwei Jahre her.
    Bat klemmt die Plastikflasche zwischen ihre Knie und mampft das nächste Croissant, das noch ein klein bisschen warm ist, genau so, wie sie es am liebsten mag. Die Bahn ist voll, sie gibt sich Mühe, durch die grauen Bürogesichter hindurch zu sehen.
    »MACH BITTE DIE MUSIK LEISER! DU BIST NICHT ALLEIN HIER!!« Ein wütendes Frauengesicht mit einer unglaublich hässlichen Dauerwelle taucht direkt vor Bats Nase auf.
    Spießige Kuh! Bat will sie ignorieren, aber jetzt fangen auch die anderen Fahrgäste an zu nerven, tuscheln und zeigen auf sie und durchbohren sie mit bösen Blicken, also gibt sie sich geschlagen und regelt die Lautstärke ihres MP3-Players ein klein bisschen runter, wenigstens für einen Song oder so. Aber der Spaß ist vorbei, und die leckeren Croissants beginnen in ihrem Bauch zu klumpen. Ein mittelgroßes Buttercroissant hat dreizehn Gramm Fett und 845 Kalorien, Beatrice, das können wir uns nur zu besonderen Anlässen erlauben … Es gibt Sätze, die ihre Mutter so oft wiederholt, dass Bat sie auswendig kann, ob sie will oder nicht, und die Kalorienangaben für ihre Lieblingsspeisen gehören leider dazu.
    Endlich, der Melatenfriedhof, ihre Station. Bat fegt die Krümel von ihren Klamotten und drängelt sich zur Tür durch. Die Fahrgäste weichen ihr aus, so gut es geht, ihre Blicke bohren sich dafür umso härter in Bats Rücken. Sie weiß genau, was sie denken, muss gar nicht hören, was sie über sie sagen: Dreckiger Punk, Höllenbraut, liegt uns auf der Tasche, sollte verboten werden … Sie dreht sich rum und schneidet ihnen eine Grimasse. Eine Frau weicht zurück. Der Mann neben ihr guckt verunsichert. Das ist ein echter Vorteil von diesen schwarzen Klamotten. Die Leute bleiben auf Abstand, trauen sich nicht, sie anzupacken, auch wenn sie bloß ein Mädchen ist.
    Bat springt auf den Bahnsteig, dreht die Musik wieder lauter und wirft die leere Kakaoflasche und die zusammengeknüllte Tüte einfach auf den Boden. Sie glaubt, hinter sich empörte Schreie zu hören, aber andererseits kann das ein Irrtum sein, denn die Sisters of Mercy sind auf jeden Fall lauter und viel, viel wichtiger als das Gemecker irgendwelcher Spießer, und außerdem muss sie sich jetzt wirklich beeilen, wenn sie nicht schon wieder zu spät kommen will.
    Die Friedhofsgärtnerei Stein hat bereits geöffnet, der Azubi Ingo schiebt die Gestelle mit der Verkaufsware in Position. Stiefmütterchen, Tulpen, Osterglocken, Hyazinthen. Bat stiehlt sich ungesehen über den Hof nach hinten, wo der Seniorchef Walter Tausendschönpflänzchen pikiert.
    »So«, sagt er, ohne den Blick von den Setzlingen zu heben.
    Bat schiebt die Hände in ihre Manteltaschen, schließt sie um Springmesser und Reizgasspray.
    »Ich war krank«, nuschelt sie. »Magen-Darm.«
    Der alte Mann reagiert nicht, anscheinend voll und ganz auf seine Arbeit konzentriert.
    »Es tut mir leid«, sagt Bat und umfasst das Tränengas fester. »Ich hätte anrufen sollen.«
    »So«, sagt Walter wieder und streckt sich nach einem neuen Pflanztablett.
    Bat packt es für ihn, schiebt es genau in die richtige Position. Er nickt, arbeitet schweigend weiter. Sie schaut sich um, holt das nächste Pflanztablett. Endlich. Er lächelt. Reibt Erdkrumen von seinen Händen. Alle Poren und Falten seiner Haut sind von der jahrzehntelangen

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