Farben der Schuld
bleiben. Millstätt seufzt und blättert in ihrer Personalakte. Vor und zurück. Und wieder vor.
»Du warst immer eine gute Ermittlerin, Judith. Du hattest oft den richtigen Instinkt. Aber bei diesem letzten Fall … Du hast dich verrannt, hast die Distanz verloren. Und vor allem hast du dich sämtlichen Anweisungen widersetzt.«
»Letztendlich habe ich aber den Täter überführt.«
»Und der Zweck heiligt alle Mittel?«
»Natürlich nicht.«
Der Schmerz in ihrem linken Handgelenkt ist akut, ein glühender Stich. Ohne es zu merken, hat sie die Hände zu sehr ineinander gekrampft.
»Wenn du in dieser Nacht auf Verstärkung gewartet hättest, Judith, wenn du Kühn informiert hättest …«
»Dann?«
Sie will, dass er es ausspricht, fürchtet es zugleich. Ihr Mund ist trocken, ihre Stimme ist zu leise, sie wagt es nicht, noch einmal nach ihrer Tasse zu greifen, weil ihre Hände zittern, sobald sie die Finger voneinander löst. Atmen, atmen. Immer wieder, immer weiter. Wie aus weiter Ferne glaubt sie die Worte des Polizeiseelsorgers zu hören: Sie können nicht wissen, was geschehen wäre, wenn Sie etwas anders gemacht hätten, Judith. Sie können nicht rückgängig machen, was geschehen ist. Sie können nur lernen, damit zu leben.
Millstätt vertieft sich ein weiteres Mal in Judiths Akte.
»Du müsstest dich zurücknehmen, auf Anweisung handeln. Das ist nicht gerade deine Stärke.«
Du bist zu stur, genau wie dein Vater. Die Standardanklage ihrer Mutter, wenn Judith mal wieder nicht tat, was sie wollte, wenn sie zu spät kam, die Brüder nicht hüten wollte, gegen die korsettartigen Regeln im Haushalt Krieger rebellierte. Wenn sie trotzte, wie ihre Mutter das nannte, selbst als Judith schon 18 war. Du bist wie er. Du bist wie dein Vater. Judith konnte nie überprüfen, ob das stimmt, sie kann sich ja nicht einmal an den Klang seiner Stimme erinnern. Sie setzt sich aufrechter hin, hat auf einmal keine Lust, ihrem Chef zu widersprechen.
Er gibt nach. »Kühn leitet die Soko Priester. Du wärst ihm unterstellt.«
»Kühn«, sagt sie und merkt, wie sie zu schwitzen beginnt. Nicht aus Angst, sondern aus Wut.
Millstätt stützt die Ellbogen auf den Tisch und lehnt sich vor, näher zu ihr.
»Du hast niemand anderem zugetraut, diesen Fall zu lösen und vor allem nicht deinem Vorgesetzten Holger Kühn.«
»Das ist doch Quatsch.« Judith beißt sich auf die Lippe. »Ich bin in dieses Haus gegangen, um mit einer Zeugin zu sprechen. Ich konnte nicht wissen, dass der Täter zurückkommen würde.«
»Ich glaube dir ja, dass du in guter Absicht gehandelt hast.«
Aber das Ergebnis zählt und das Ergebnis sind zwei Tote. Hat Millstätt das laut gesagt oder hat sie das gedacht? Sie stellt sich vor, wie es wäre, jetzt einfach zu kündigen. Noch einmal von vorn anzufangen – anders, besser. Ein neues Leben, als Anwältin vielleicht. Das ist nicht wirklich verlockend, doch auf eine Art macht es sie frei und sie hebt den Kopf und sieht Millstätt in die Augen.
»Also?«
Er seufzt abermals und schlägt ihre Akte zu.
»Wir sehen uns am Montag, ich spreche mit Kühn.«
»Wir sind in großer Sorge, viele meiner Kollegen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus.« Die wasserblauen Augen von Bernhard Dix, dem Gemeindepfarrer Sankt Pantaleons, saugen sich an Manni fest.
»Das tut mir leid«, sagt Manni. »Aber dazu besteht nach dem aktuellen Ermittlungsstand kein Anlass. Das Opfer war, wie ich Ihnen bereits sagte, ein Arzt…«
Der Adamsapfel des Pfarrers fährt über dem Priesterkragen auf und ab.
»Sie können also definitiv ausschließen, dass dieser Mordanschlag der katholischen Kirche galt?«
Nein, denkt Manni, nein. Das können wir nicht. Gar nichts können wir ausschließen, so gut wie gar nichts haben wir bislang erreicht. Er versucht, Ruhe und Autorität in seine Stimme zu legen.
»Gibt es in Sankt Pantaleon eine Mitternachtsmesse? Gehen Sie nachts hin und wieder ins Pfarrbüro oder in die Kirche?«
»Nein, nein.«
»Gibt es nach Ihrer Kenntnis irgendeinen Bezug von Jens Weiß zu Ihrer Gemeinde?«
»Nein, Sie haben unsere Bücher und Spendenlisten doch gerade überprüft.«
»Weiß' Verbindung zu Sankt Pantaleon muss nicht schriftlich dokumentiert sein.« Die Bücher können frisiert sein, Alibis erdacht worden – hier wie im Krankenhaus, wie in Weiß' Familie und Freundeskreis. Mehr als 48 Stunden sind bereits seit dem Mord vergangen und sie haben noch immer keinen vernünftigen
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